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und Angestellte der Friedhofsverwaltung damit begannen, vom Regen durchnässte Erde auf das Grab zu schütten, wollte sich auch Sophie langsam auf den Weg nach Hause begeben. Doch während sie noch einen letzten Blick hinter sich warf, blieb sie kurz stehen und verharrte einen weiteren Moment in Stille. Plötzlich spürte sie, wie zum ersten Mal ein Gefühl von Vergebung in ihr aufzusteigen schien und Demut sich in ihrem Herzen bemerkbar machte. Der Wunsch nach Harmonie ließ sie an ihre eigene Familie denken und auch daran, dass Katherine ihr häufig zu erklären versuchte, wie wertvoll ein Leben in Versöhnung anstatt in Schuld und Sturheit wäre. Auch wenn Sophie daraufhin nicht gleich die Absicht verspürte, ihrer Mutter für all die Missachtung und Gleichgültigkeit in ihrer Kindheit zu verzeihen, so wollte sie zumindest wissen, wie es ihr im Moment gehen würde. Sie fasste also den Entschluss, dass wenn sie zu Hause wäre, ihre Mutter gleich anrufen würde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie das noch kein einziges Mal in ihrem Leben von sich aus gemacht. Der Regen wurde schlimmer und Sophies Stiefel, die sie sich extra für die Beerdigung neu gekauft hatte, versanken im Morast des aufgeweichten Erdbodens. Das Gehen fiel ihr dadurch zwar schwer, doch viel schwieriger war es für sie, nun von Katherine endgültig Abschied zu nehmen. Sie drehte sich noch mehrmals zu ihrem Grab um, bevor sie das verrostete Friedhofsgatter hinter sich verriegelte. Auf dem Parkplatz vor der Kirche sah sie mit tränenden Augen, wie Dr. Kollwitz ein paar Meter von ihr entfernt seinen Wagen wendete und beim Abbiegen hinter der Kirchenmauer verschwand. Langsam bereute sie, dass sie sich während der Trauerfeier vor ihm versteckte, denn es war offensichtlich, wie sehr auch er unter dem Tod von Katherine zu zerbrechen schien. Sie dachte, dass er sich sicher gefreut hätte, wenn sie kurz zu ihm rüber gekommen wäre. Außerdem wusste sie noch nicht, wann Dr. Kollwitz seine Praxis wieder eröffnen würde, denn einen Termin konnte er Sophie noch nicht nennen. Er hätte noch einiges zu erledigen und bis wieder so etwas wie ein Arbeitsalltag entstehen könne, würde noch sehr viel Zeit vergehen müssen. Vielleicht, dachte sich Sophie, würde sie ihn zu Weihnachten anrufen oder zumindest eine Karte schreiben, denn auch er war nach der Arbeit häufig alleine und nur damit beschäftigt, Berichte zu schreiben oder Patientenabrechnungen für die Krankenkassen fertig zu stellen. Sie konnte sich kaum vorstellen, welche Qualen er zu durchleben hatte. Vor allem als man ihn noch an Katherines Tod zu beschuldigen begann. Das hätte wohl nicht nur seiner berufliche Karriere, sondern viel mehr auch seiner Psyche großen Schaden zugefügt. Wie sich Simone indes fühlen würde, interessierte Sophie jedoch nicht, denn auch sie war eine unter vielen, die bereits kurz nach Beginn der Trauerfeier den Friedhof verlassen hatte. Die Tatsache, dass sie überhaupt anwesend war, hätte für Sophie jedoch nichts daran geändert. Denn auch für Simone war Katherine stets bereit einzuspringen oder Aufgaben zu übernehmen, wenn sie die Arbeit wegen eines Termins beim Frauenarzt verlassen musste. So wäre es wohl von Simone nicht zu viel verlangt gewesen, bis zum Ende der Beerdigung zu bleiben. Aber wie schon bei vielen anderen Leuten, war es für Sophie nicht verwunderlich, dass sich Simone selbst gegenüber einer toten Person so respektlos verhalten hatte. Für sie war Simone das Paradebeispiel eines Menschen, der alles verkörperte, was die Gesellschaft ihrer Meinung nach kalt und herzlos machte. Sophie hoffte, dass es am Friedhof das letzte Mal gewesen wäre, wo sie Simone sehen hätte musste, doch sollte sich noch herausstellen, dass es das Schicksal ganz was anders mit ihnen beabsichtigte.
10
Sophie lag kopfüberhängend am Rand ihres Bettes und hielt dabei das Telefon in der Hand. Während sie sich noch zu überwinden versuchte, die Nummer ihrer Mutter zu wählen, tropften einzelne Tränen über ihre Nasenfalte zu Boden und versickerten im Teppich. Immer wieder tauchten in Sophie die Erinnerungen des sich absenkenden Sarges auf, den das kalte Loch des Friedhofs zu verschlingen schien. Ähnlich ihren getrockneten Tränen am Boden, die stetig durch neue ersetzt wurden, um kurz darauf zu verblassen. Wie ein steter Kreislauf aus Erinnerungen, die Sophie mit jeder Wiederholung in ihre Hilflosigkeit zurückversetzen ließen. Doch je öfter sie dieses Gefühl von Angst und Schwäche verspürte, desto intensiver nahm sie es war. Sophie wollte zwar ihre Mutter noch anrufen, doch konnte sie kaum ihre Arme heben, geschweige denn die Kraft zu Reden aufbringen. Völlig erschöpft und müde von den letzten Tagen, schlief sie ohne es beabsichtigt zu haben schlagartig ein. Erneut fand sie sich in einer farblosen Umgebung ihres Traumes wieder. Nur dieses Mal konnte sie kein loderndes Feuer feststellen. Überall um sie herum verteilte sich der Staub in der Luft. Nirgends war ein Weg zu erkennen, über den sie diesen leblosen Ort hätte verlassen können. Sie spürte allmählich, wie Kälte in aufziehenden Staubwolken zu ihr getragen wurde und ihr dabei schwarze Asche verbrannter Erde die Sicht vernebelte. Das Licht verdunkelte sich und Sophie bekam es mit der Angst zu tun. Sie fühlte sich unfähig der aufsteigenden Finsternis entfliehen zu können. Gerade zu panisch versuchte sie, ihre Augen fest zu verschließen, um sich in ihrer eigenen Dunkelheit zu verstecken. Plötzlich erschien vor ihr erneut ein männliches Gesicht, das sie nun zwar deutlich erkennen, jedoch nicht zuordnen konnte. Zumindest erinnerte sie sich nicht daran, dieses Gesicht jemals zuvor in ihrem Leben gesehen zu haben. Anders als in ihren üblichen Träumen, verspürte sie beim Anblick der vor ihr erschienenen Gestalt ein Gefühl von Geborgenheit. Es war ihr unverständlich, weshalb ein ihr Fremder alleine dadurch, dass sie ihm in die Augen sah, Sicherheit vermitteln konnte. So schien die Gefahr der um sie herrschenden Dunkelheit besiegt und Ruhe kehrte in ihren Träumen ein. Sophie konnte diese Nacht tief und fest schlafen, bis sie am nächsten Morgen Sonnenstrahlen weckten, die wärmend durch ihr Schlafzimmerfenster drangen. Als sie langsam ihre Augen öffnete und sich dabei im Bett streckend in ihrer Wohnung umsah, drehten sich ihre ersten Gedanken nur um den Mann aus ihrem Traum. Sophie konnte nicht verstehen, weshalb sie dieses Mal keine Angst
Leseprobe aus: Schwarzes Kolorit