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Landes.
Er klaubt in aller Öffentlichkeit Regenwürmer und Schnecken vom Gehsteig und wirft sie in die Rasenflächen und Gebüsche.
Eines heißen Sommertags erregt er sich nackt im heißen Brei auf dem Holzbrett.
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Hirsch erlebte die Schule als Obrigkeit. Als Verordnung erlassende und die Durchführung kontrollierende Behörde. Lernen war Empfangen von Befehlen, Durchführen derselben in festgelegter Arbeitszeit, Kontrolle der Durchführung zu festgelegten Terminen, Rapporterstattung. Immer gab es oben die Schule, den Lehrer und unten die unmündige Masse der Lernenden.
In der Schule liegen Legislative und Exekutive in einer Hand, wie selbstverständlich, gottgegeben. Der Schüler lebte für Hirsch in keiner Demokratie, er lebte in einer absoluten Monarchie. Die Monarchen regierten zum Wohle des Volkes!
Hirsch lernte nie kooperatives Lernen kennen. Es gab Bündnisse aus Zweck oder Freundschaft, es wurden Erfahrungen im Umgang mit der Obrigkeit ausgetauscht, weitergegeben, da wurde ein Befehl auch einmal arbeitsteilig durchgeführt. Aber das war entweder aus Gründen der Effektivität oder konspirativ. Nie erlebte er die Hochstimmung einer Gruppe, die sich selbst eine Aufgabe stellt, diese gemeinschaftlich organisiert und löst.
Die Schule war für Hirsch ein absolutes, monarchisches System, in dem die Monarchen für die erste Altersstufe das Prinzip der allgemeinen Bildung vertraten - deren Inhalt die Gemeinschaft der Monarchen selbst festlegte - in der zweiten Altersstufe das Prinzip der Berufsausbildung - deren Inhalt die Produktionsbetriebe in Person der Verfügungsgewalten über dieselben festlegten. Erziehungsziel war für alle Erziehungspunkte Tüchtigkeit, Fleiß, Arbeitswille, Pflichtbewußtsein, Loyalität, Ruhe und Ordnung, geregelte Arbeitszeit und ein ehrfürchtiges oder epikuräisches Weltbild. Diese allen Erziehungsgegenständen zugrunde liegenden Ziele vergegenständlichten sich entsprechend dem Altersstand des Schülers in Fächern wie Betragen, Fleiß, Schönschreiben, Religion, Gemeinschaftskunde, Philosophie und oft auch in Geschichte, Kunsterziehung und Turnen.
Der Absolutismus lag schwer auf den zarten Trieben der Schüler! Diese konnten sich nur im Verborgenen oder in Sublimationen verwirklichen. Hirsch lebte lange Jahre in einem von diesem Prinzip total beherrschten Staat im Staate. Und wie einen krönenden Abschluß, eine Feuerprobe und eigentlich erst recht die höchste Schule selbst, hatte er endlich noch den Militärdienst zu leisten.
Am Ende, nach zwanzig Jahren, stand er da, von hundert Erziehern und Lehrern in tausenden von Stunden übergossen, mit Zuckerbrot und Peitsche verführt und gebrochen, ausgebildet, schließlich und eigentlich erst lebensfähig gemacht, das heißt in den Zustand gebracht, sein Brot verdienen zu können im System. Dies aber in viel mehr Hinsichten, als er zum Zeitpunkt seiner Reifeerklärung zu ahnen imstande war.
Nicht nur hinsichtlich Fachwissen, viel wichtiger war die Fähigkeit, einer geregelten Tätigkeit nachgehen zu können, sauberes Arbeiten, Verläßlichkeit, und was die Kasernen der Gesellschaft noch alles vom Millionenheer der Rekruten benötigen, um den Betrieb aufrecht erhalten zu können - welch moralischer Ingrimm - und dem Volk die Existenzgrundlage zu sichern.
Daß in Wirklichkeit diese Erziehungsziele wichtiger waren, als die Ausbildung im Fachwissen erkannte Hirsch später, als er mit Arbeitern aus anderen Kulturen zusammenkam. Bei gleichem Fachwissen zählte nur noch der Grad an Regelmäßigkeit, Verläßlichkeit, Pünktlichkeit, Loyalität. Die Erziehung des Hilfsarbeiters gar läßt Fachwissen überhaupt beiseite, beschränkt sich in schöner Klarheit auf Gehorsam und Fleiß.
Hirsch stand, als er die Kaserne verließ, durch zwanzig Jahre hindurch tüchtig gemacht und stolz darauf, da mit einem Gefühl der Freiheit. Der Freiheit, unter hundert Möglichkeiten wählen zu können. Erst später erkannte er, daß es nur eine Wahl war unter hundert verschiedenen Kasernen und daß auch diese hundertfache Vielfalt eine Täuschung war, daß er einer durchorganisierten Vielheit gegenüberstand.
Und auch der Stolz wich schneller, als man ahnen konnte, einer Trauer und Wut darüber, daß seine Tüchtigkeit im Grunde nur eine letzte Sublimation ist seiner zarten Triebe als Kleinkind, Kind, Schüler, Lehrling, Student und Soldat. Er stand sich als Ausgebildetem und im System Funktionierendem als einem Fremden gegenüber, als ihn die Ahnung erfaßte, wer er eigentlich jetzt wäre, wenn er sich nach den innewohnenden Trieben in Kooperative einer selbstentfalteten Gesellschaft entwickelt hätte.
Was und wie er in den folgenden dreißig Jahren werden würde, wird so vollkommen verschieden sein von der ihm zu Anfang innewohnenden Existenz. Ja er ahnte den Kampf der kommenden Jahrzehnte, als er erkannte, daß jedes Weiterschreiten ein Abwerfen und Überwinden der ersten fünfundzwanzig Lebensjahre und ein Kampf gegen die Widerstände des Systems und der von ihm zurecht erzogenen, der sich selbst entfremdeten Menschheit, sein müsse und werde.
Aber was er noch nicht wußte, war, daß er es nicht allein war, der zu diesem Marsch aufzubrechen begann, daß er dabei war, den Kriegscharakter der etablierten Ruhe, Ordnung, Kasernen, Rechtlichkeit und des öffentlichen und privaten Wohlergehens zu erkennen, daß Tausende im Untergrund waren, vom System verleumdet oder verschwiegen und meist, das ging ihm schnell auf, an den Rand des Existenzverlustes gedrückt. Menschen fand er später dort, in Armut, in nackter Not, deren Fähigkeiten sie zu Führern, Nutznießern, Profiteuren des Systems hätte machen können.
Hirsch erkannte einen über hundert Generationen reichenden Kampf, in dem dem System trotz permanenter Überlegenheit nicht die Vernichtung des zahlenmäßig schwachen Gegners gelang. Man konnte lesen, daß der letztendliche Sieg eine Kette von Niederlagen sei. Hirsch sah eine unglaubliche Kette von Niederlagen, eine jahrtausendelange Folge von Niederlagen, ohne daß es je zu Ende kam. Er verstand, daß ein so viele Niederlagen Überlebender tatsächlich der Stärkere sein wird, nicht nur im Jenseits oder als auserwähltes Volk. Er verstand, daß der überlegen und lange Herrschende schon seine erste Niederlage nicht überleben wird.
Hirsch folgte weiter und weiter diesem Weg. Mit Wucht traf ihn die Erkenntnis, daß die hehren Gestalten der Geschichte eigentlich den Kampf gegen das System führten und daß diese von den Institutionen nur für die Zwecke des Systems mißbraucht wurden, daß die Menschen um ihre eigenen Märtyrer betrogen, belogen, hinters Licht geführt werden und wo das nicht reichte mit nackter Gewalt gepreßt, gebrochen, fügsam gemacht.
Hirsch hatte eine selbstmörderische Periode. Von Empörung ergriffen, voll Widerwillen, fand er jedes für sein eigenes Recht Kämpfen als lästig, ja unmoralisch. Derweilen schlugen die, die er verachtete, aus seinem Rückzug erst recht ihren Profit. Hirsch mußte erst lernen, was Untergrund ist, was Sklavensprache bedeutet, was dem Kampf dienlich war und was demgegenüber nichts anderes war als das Geschäft des in der Regel vom System bezahlten agent provocateur bedeutete.
Hirsch war dem Selbstmord nahe. Doch am Ende beschloß er, den Kampf zu