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überleben, schloß Frieden mit dem System, wie er es grimmig nannte. Er erfaßte, was ein Friedensvertrag in Wahrheit ist.
Hirsch wußte, daß in Wirklichkeit alles dem Volke gehörte, wenn auch einem schon seit Jahrtausenden selbstentfremdeten. Er machte es sich zum Ziel, die Macht über die Mittel des Volkes zu erobern und dafür die nächsten kommenden Jahre zu verwenden. Er wurde zum Infiltranten in das System, machte sich zur Aufgabe, gewisse Leute zu verdrängen. In Zukunft wollte er jeden seiner Fortschritte an Bildung, Können, Wissen als Gewinn im Kampf des Volkes betrachten.
Wenn die Zeit reif ist, wird er sich der kämpfenden Partei zur Verfügung stellen. Bis dahin wollte er sich möglichst viel Wesentliches, Wichtiges, Effektives aneignen. Ein Gescheiterter ist eine Belastung für die Partei.
Hirsch wurde von einem nie gekannten Eifer erfaßt, von einem kooperativen Arbeitswillen, keinem anbefohlenen, verführten oder eigennützig tüchtigen. Ihn erfaßte ein geradezu antischulischer, antikarrieristischer kooperativer Lernwille, wenn der auch von der Umwelt als solcher mißverstanden wurde. Hirsch exerzierte am eigenen Leib Sklavensprache, Tarnung, Untergrund. Er wußte aber auch, daß der Verzicht auf protestierende Artikulation auf die Dauer wirklich zum Verzicht auf den Kampf und zu Anpassung führen kann, er erkannte die Gefahr, daß Lernen und Arbeiten im System Erfolg bringt und damit opportunistische Gefahren und Entfremdung vom Denken und den Bedürfnissen der Basis, wenn er sich zum Zwecke der Infiltration dem Leben der Herrschenden hingibt.
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Ein Mensch ohne andere Menschen hat keine Sprache. Ein Mensch ohne andere Menschen hat keine Gedanken. Ein Mensch ohne andere Menschen hat keine Liebe. Ein Mensch ohne andere Menschen ist betrogen.
Die Ideologie der Privatsphäre und des Ichs ist ein Schwindel. Allerdings sagte Bernhard angesichts der kalten Kollektivität, wie schön ist die Einsamkeit. Warum kommt dieser Gedanke nur denen? Keine der Frauen sagt so etwas.
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Ein ödipales Dreieck am Zeitmississippi.
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Der Eins Mann sagte, er werde über die Brücke gehen. Der Zwei Mann trennte sich vom Eins und blieb am rechten abwärtigen Ufer. Am linken Ufer traf der Mann eine Frau, mit der er ein Lager aufschlug. Erholt hoffte er, anderntags umso weiter voranzukommen. Verglich er die Frau mit der vorangegangenen, so wogen die vollen Haare der Zwei die Brüste auf.
Der Mann und die Frau hatten eine gute Nacht. In froher Stimmung brachen sie auf. Am hohen Nachmittag trennten sie sich. Der Mann lief am Ufer entlang. Erst nach Sonnenuntergang hielt er an. Auf nackter Erde schlief er, bis die Sonne ihn weckte. Die Frauen kamen vorbei. Eine von ihnen wollte noch.
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Drei Pinguine kamen aus der Kälte, um Grünzeug zu holen. Sie machten aus Blättern und Gras kleine Pakete, um sie in ihre Eisheimat zu tragen. Einem Pinguin gelang nicht, sein Paket richtig zu schnüren. Der Mann half ihm. Doch traurig fragte er sich, wer dem ungeschickten Liebling beim nächsten Mal helfen würde. Das Schicksal dieses Pinguins ist doch sowieso besiegelt.
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Der Andere hatte eine Theorie entworfen. Stolz bat er, den dicken Stoß der Berechnungen zu betrachten.
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Der Mann und die Frau rieben ihre Wangen. Er gab seine Askese. Die Frau bat, das Paket ihrer bemalten Blätter auf den Müll zu werfen.
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Der Andere hielt einen Spiegel vor die Scheinwerfer seines Lastautos und blinkte Signale in den Wald. Die Frau ging hinein. Der Mann sagte dem Anderen, daß seine stillen Signale ja Tote erwecken. Er fragte ihn, wie lange das schon so geht. Der Andere sagte, das geht schon eine ganze Weile so, aber es neigt sich sowieso bereits dem Ende zu. Er zeigte auf einen Platz. Die Frau war schon im Dunkel.
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Vielleicht hat der schwerfällig geäußerte Gedanke gegenüber dem perfekt dargebrachten denselben Charme wie Volkskunst gegenüber akademischer Gestaltung, wie der Nomadenteppich gegenüber dem Manufakturteppich. Vielleicht ist Schwerfälligkeit überhaupt ein Zeichen von Qualität.
Ich frage mich, weshalb wir die Werke naiver Maler schätzen, aber die Werke naiver Denker und naiver Niederschrift verabscheuen. Natürlich ist das Ergebnis einfacher Imitation akademischer Werke Kitsch, doch es gibt naive Produktion, die aus dem Innersten kommt und nicht vom Nachahmungstrieb gespeist wird. Dabei zeigt sich, daß das ausgefeilte Endprodukt weniger enthält, als die stümperhafte Erstfassung.
Begabung oder Talent ist oft nur die Gabe oder Übung, die stümperhafte Erstversion zu überspringen und schon im Kopf die Endversion, zumindest eine fortgeschrittene Version, zu produzieren. Deshalb schmeckt häufig das Talentierte schaler als das, was roh aus dem Mund dessen kommt, der kein Talent sein Eigen nennt.
Der Talentierte steht andauernd unter dem Druck, seine druckreifen Denkfiguren niederzuschreiben. Dem Untalentierten fehlen dazu die Worte. Wahrhaft Großes entsteht aber, wo es gelingt, aus dem talentierten Produkt die untalentierte Rohform wieder zu gewinnen, das Talent also nur zu nutzen, überhaupt zu einer Niederschrift zu kommen.
Größe wird nur zu Teil, aus dem Talentprodukt das unverfälschte Rohprodukt zu erzeugen, was dem so genannten Untalentierten sofort zur Verfügung stünde. Es geht darum, das l’art pour l’art zu überwinden und aus der talentierten Exklusivität zu uns zurückzukommen, so daß wir sagen, ja so ist es, genau so würde ich es auch beschreiben.
Die neidenden Kollegen bezichtigen dann, nach der Menge zu schielen. Welch ein Lob! In den Elfenbeintürmen sind sie nur für sich bestimmt, nicht für die Öffentlichkeit schreibend und nicht schuld daran, wenn ihre Werke gelesen werden oder im irren Glauben, die Nachwelt werde sie erkennen. Doch die Nachwelt erkennt nur ein Rohprodukt, niemals das pseudorevolutionäre l’art pour l’art der Zeit.
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Was ich niederschreibe, ist nicht geeignet, dargebracht zu werden. Es ist eine abgekürzte Rohschrift, aber nicht im Sinne stenographischer Zeichen, die, wenn man die Abkürzungen kennt, ohne Verlust gelesen werden können, sondern es ist ein Stenogramm ganz persönlichen Codes, in dem ich die schnell auftauchenden und schwindenden Gedanken fixiere. Ich fixiere sie in passenden Bildern, Metaphern, Phrasen, um durch Formulierung ja keine Zeit zu verlieren für das Fortschreiten des Geists, des Gefühls, des Erlebens. Ich fetze gedroschene Phrasen hin wie ein Stenograph seine Zeichen, hoffend, in geklärter, freier Zeit noch in der Lage zu sein, das Niedergeschriebene neu zu erwecken und in Klarschrift zu setzen.
Ein aus abgekürzten Zeichen bestehendes Stenogramm ist für den Kenner ohne Informationsverlust lesbar, mein Phrasenstenogramm aber für niemanden als für mich.
Wenn ich bei einer naturwissenschaftlichen Untersuchung zu einem brauchbaren Resultat komme, dann ist mein Schreibtisch