Fernsehen am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts - Page 4

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des freien Menschen selbst verschwindet im Fernsehen. Mit dem Häftling wird auch eine Hälfte des freien Menschen unerbittlich ihrer ökonomischen Liquidation im Fernsehen zugeführt.

Das Fernsehen ist ja ein Medium sowohl des freien Menschen als auch des Häftlings, da das Produktions-System, wenn es alle Länder erschlossen hat, die einzig verbleibende Funktionseinheit ist. Das endsiegreiche Produktions-System wird jeden Glanzes entkleidet, wenn es sowohl die Integration des freien Menschen in das Produktions-System, als auch die individuelle Lagerung des Häftlings durchführen muß. Wie es dem Produktions-System dabei gelingt, dass dem freien Menschen - wie im Lager - auch das Leben des individualisierten Häftlings verborgen bleibt, ist zu erforschen. Denn erstmals ist jetzt dem freien Menschen in seiner tagtäglichen individuellen Existenz die Möglichkeit gegeben, an die Seite des Häftlings zu treten und sich selbst willentlich vom Fernsehen als Häftling lagern zu lassen – also gleichsam in menschlichem Mitgefühl eigene Lebenszeit für einen mitmenschlichen Kontakt mit dem Häftling und gar einen dokumentarisch genauen und episch kraftvollen Bericht über dieses schreckliche Universum zum Fortschritt des erschlossenen Landes zu investieren. Der Häftling selbst hat dazu selten die Kraft.

Aber wer traut sich, in die Hölle zu steigen? Wird er wirklich wie Orpheus wieder emporsteigen oder wie Solschenyzin nach elf Jahren Haft mit gestählter Seele den Lager-Staat verlassen? Ist es nicht ein zu gefährliches Spiel mit dem Feuer, da das Produktions-System immer schneller den Synchronisierungstakt der Freiwilligkeit schlägt und Orpheus, wenn er zurückkommt, sich in der Welt nicht mehr zurechtfindet? Und was kommt dabei heraus? Jeder Bericht ist immer nur ein kleines, subjektives Guckloch in die Hölle und kann somit leicht als untypischer Sonderfall und abschreckendes Beispiel dafür verwendet werden, was dem freien Menschen blüht, wenn er in kurzzeitiger Solidarität mit dem Häftling stoppt, up to date zu sein und seine Mitarbeit im Produktions-System zu lange einstellt. Und ändern kann das die Hölle sowieso nur, wenn sich das erschlossene Land und der freie Mensch ändert. Bericht ist immer nur Bericht.

Die Besonderheit des Fernsehens ist, dass das Tor zur Freizeit des freien Menschen und zum Lager des individualisierten Häftlings dasselbe ist. Wenn der freie Mensch allabendlich durch dieses Tor eintritt, erhebt er sich danach erholt und das dauernde Verweilen des Häftlings dort unten kann er gar nicht als Marter verstehen. Der freie Mensch wünscht sich im Gegenteil für sich selbst ein solches Leben im Fernsehen als Paradies nach der Arbeitswelt, als Lohn nach einem Leben im Produktions-System.

Hier wird berichtet werden von den schrecklichen Erfahrungen aus den Randzonen des individualisierten Fernseh-Lagers, in die der Protagonist tausend Tage lang verschlagen wurde.

Das Fernsehen vernetzt die individualisierten Häftlings-Zellen sternförmig zu einem monadisierten Lager-Staat. Quer-Kontakte des Häftlings sind in diesem Lager nicht möglich. Persönlich ins Fernsehen kommen und sich auf diese Art einen Spaziergang im Kontakthof des Fernseh-Lagers zu ergattern, wird zum einzig vorstellbaren Beziehungs-Ziel. Dem Häftling steht auch das Telefon-Netz des freien Menschen zur Kommunikation zur Verfügung – aber das Telefon ist nur technische Unterstützung für bereits bestehende Beziehung und kein Medium zur Knüpfung von Beziehung. Telefonieren ohne Beziehung funktioniert nur in der Phantasie. Telefonservices bieten Phantasien an, durch die der Häftling zappen kann wie durch die Kanäle des Fernsehens. Telefon ohne Beziehung ist Terror.

Fernsehen und Telefon vereinigen sich kostengünstig im Multimedium. Bild, Text und Ton sind dort integriert. Dabei entsteht das romantische Lager-Staat-Gefühl einer Häftlingsgemeinschaft dadurch, daß der Häftling sich mit seinem PC von der Häftlingsgemeinschaft gesehen fühlt wie als Teilnehmer einer Fernsehshow und daß er mit diesem Beziehungstorso glaubt, telefonisch in Kontakt kommen zu können. Der Fernseh- und zukünftig multimediale Lager-Staat bietet im Unterschied zum alten Lager-Staat wegen seines fehlenden Produktions-Systems immer nur eine Schein-Existenz, die lediglich dazu dient, die anstehende Liquidation des Häftlings zu verschleiern. Die Tatsache ist nicht wegzuzaubern: die Fernseh- und multimediale Lager-Zeit ist tote Zeit im Bezug auf die Realität des erschlossenen, produktiven Landes, ist Frei-Zeit im Kontext der Arbeitszeit im Produktions-System und vor dem Hintergrund der drohenden Liquidation des Häftlings Aufschubs-Zeit.

Das Produktions-System ist die einzig verbleibende Funktions-Einheit im letztendlich global erschlossenen Land. Es entwickelt Verfahren zur Anbindung des freien Menschen an das Produktions-System. Fernsehen für Freizeit und Werbung, Telefon als Arbeits- und Beziehungs-Werkzeug des freien Menschen, Multimedium als Werkzeug für Klein-Unternehmer und Zubringer-Produktion, für Forschung und Wissenschaft innerhalb des Produktions-Systems und zunehmend als Freizeit-Spielplatz des freien Menschen. Da das Produktions-System im entwickelten Land auch die Aufgabe der individuellen Lagerung des Häftlings hat, verwendet es Fernsehen und Multimedium auch für die Lagerung des Häftlings. Es gelingt ihm, diese Medien in der Freizeit des im Produktions-System arbeitenden freien Menschen von 18 Uhr bis 23 Uhr für diesen und während der Arbeitszeit des freien Menschen von 8 Uhr bis 18 Uhr, getarnt als Schul- und Frühstücks-Informations-Fernsehen, für die individualisierte Lagerung des Häftlings zu verwenden. Die spezielle Gruppe der staatsfeindromantischen Intellektuellen bedient das Fernsehen von 23Uhr bis 2Uhr früh.

Einen spezifischen Beitrag innerhalb des individualisierten Fernseh-Lagers leistet die Werbung. Sie bringt die Arbeits-Produkte des freien Menschen als jedem allzeit verfügbare Konsum-Ware in das Fernseh-Lager, damit der Häftling nicht auf den Gedanken kommt, dass seine Hölle daher stammt, dass in seinem Lager kein ihm gehörendes Produktions-System existiert, in seinen Händen also keine reale Macht liegt. Dem Häftling wird suggeriert, daß er auf die Produkte des durch den freien Menschen betriebenen Produktions-Systems einen anstrengungslosen Zugriff hat, daß er sich nur in ein Geschäft begeben muß, um sie zu holen, daß die Freiheit, sich für den Kauf eines Produkts, künftig per Mouseclick, zu entscheiden, die Freiheit des wahren Menschen sei. Der Häftling leitet aber auch einen Anspruch auf die Waren des Produktions-Systems damit ab, daß er dem Produktions-System die Ressourcen der äußeren Welt dadurch überlässt, daß er kein eigenes Produktions-System innerhalb des Fernseh-Lagers betreibt.

Der Häftling wird durch den Zwiespalt zwischen dem ideologischen Anspruch auf die Arbeits-Produkte des freien Menschen und der realen Macht des freien Menschen, die Versorgung des Häftlings einzustellen, psychotisiert. Das Fernsehen suggeriert dem Häftling, dass seine Macht über das Produktions-System als Konsument größer ist, als wenn er als freier Mensch in ihm arbeitet, daß ihm das Produktions-System genügend Geld zu geben hat, damit er es durch den Warenkauf erhalten kann und daß dem

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