Fernsehen am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts - Page 2

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im unerschlossenen Land ein Produktions-System gewinnen, an dessen Aufbau kein einziger Bewohner des unerschlossenen Landes mittels seiner kulturell genetischen Qualität beteiligt war. Das unerschlossene Land hat nur dann eine Chance - seine genetische Kultur zu bewahren, um keine faschistoide Mummenschanzveranstaltung zu werden - wenn es dem Häftling seines Lager-Staates die autonome Menschenwürde zurück gibt. Damit hat es vor allem auch die Chance, beim Aufbau des Produktions-Systems dessen Kreativität zu nutzen. Der Staatsfeind des Lager-Staates ist in diesem Sinne in einer völlig unklaren Position. Er scheint das Produktions-System der das unerschlossene Land umgebenden erschlossenen Länder zu verklären.]

[Die Position des Intellektuellen als Staatsfeindromantiker und Kritiker der Produktions-Systeme sowohl des Lager-Staates als auch des erschlossenen Landes kommt daher, daß er seinerzeit das Aufbau-Konzept eines Produktions-Systems im unerschlossenen Land ablehnte, dafür ins Lager gesteckt wurde, um in ihm, um nicht verhungern zu müssen, ein eigenes Produktions-System zur Erschließung des dem Lager-Staat unterstellten Landesteils aufzubauen. Das Produktions-System des Lagerstaates wurde aber immer mehr dem sich außerhalb des Lagers ohne Zutun des Häftlings weiter entwickelnden Produktions-System unterstellt und gegen die dabei auftretenden Verwerfungen des lagerstaatlichen Produktions-Systems ging der Häftling in Opposition. Der Häftling realisiert zu diesem Zeitpunkt noch nicht, daß sich seine Opposition nicht gegen das Produktions-System des Lager-Staates richtet, sondern gegen die Auswirkungen des Produktions-Systems des sich außerhalb des Lager-Staates entwickelnden Landes, das er idealisiert. Nach Zusammenbruch des Lager-Staates wird der Staatsfeind im bisher von ihm idealisierten Produktions-System des entwickelten Landes schnell enttäuscht. Er erkennt, daß es darum geht, daß der freie Mensch sein ihm entsprechendes Produktions-System selber aufbauen muß, und daß der Grund der Arbeitsbehinderung des Häftlings das ihm wesensfremde, aufgedrängte Produktions-System ist und nicht Krankheit. Diese Basis der Intellektualität kann nur im Protest gegen das Produktions-System des Lager-Staates eines unerschlossenen Landes in das erschlossene Land hineingetragen werden und kann nicht aus der Analyse der Krankheitsdiagnostik im Lager des erschlossenen Landes erwachsen. Nur Reste des unerschlossenen Landes im erschlossenen Land, die sich gegen die Erschließung des unerschlossenen Landesteils nach dem Muster des erschlossenen Landesteiles wehren, also gegen die totale Vermarktung der Natur, und wogegen Lager errichtet werden, kann Intellektualität gebären.]

[Systemisch geht es darum, im erschlossenen Land ein Produktions-System zu errichten, in dem der freie Mensch genug Möglichkeiten vorfindet, aus der Vertrautheit mit diesem System heraus, also als Erbe der das System errichtet habenden Vorfahren, seine Kreativität zu realisieren. Das Produktions-System kann aber nur durch Menschen dergestalt verändert werden, die in ihm arbeiten mit dem klaren Wissen, daß es genau um diese Anpassung des Produktions-Systems geht. Dies können keine in es hineingezwungene Kranke sein, aber auch keine staatsfeindlich idealisierenden Utopisten zusammengebrochener Konkurrenzsysteme. Vielmehr geht es darum, daß der Intellektuelle die vom Kranken und Staatsfeindromantiker gemeinten, ausagierten Botschaften erkennt und in pragmatische Humanität umsetzt.]

Das Lager im unerschlossenen Land bricht zusammen, wenn das unerschlossene Land erschlossen ist. Das Lager im erschlossenen Land versagt schließlich in seiner Aufgabe der Erziehung des Arbeitsbehinderten zum freien Menschen des Produktions-Systems. Das Lager im erschlossenen Land wird schließlich aus Kosten- und politischen Gründen aufgelöst, da es sonst dem Häftling in seiner Eigenschaft als Arbeitsbehinderten ohne Gegenleistung eine kostenlose Versorgung und darüber hinaus dem Häftling als Staatsfeindromantiker eine Organisationsmöglichkeit gibt.

Im erschlossenen Land besteht das Problem, den Arbeitsbehinderten und Staatsfeindromantiker zu beseitigen oder bis dahin so zwischenzulagern, dass die Lagerkosten das Produktions-System nicht unangemessen belasten. Eine Abschiebung des Häftlings in sein romantisiertes Staatsfeind-Land ist dann nicht mehr möglich, wenn alles Land erschlossen ist und nur noch das Produktions-System des erschlossenen Landes zurück bleibt. Die Kostenfrage der Lagerung des Arbeitsbehinderten und Staatsfeindromantikers muß nun ernsthaft analysiert werden.

Ein Tag öffentlicher Lagerung kostet so viel, wie ein Monat individueller. Individuelle Lagerung erfordert die Mitarbeit des Häftlings. Um das zu erreichen, muß das Lager bis auf den Häftling herunter gebrochen und die Lagerkommandantenfunktion vom Häftling individuell internalisiert werden. Dafür wird vom Produktions-System das Fernsehen verwendet. Das Fernsehen erzeugt eine über die Bildschirme synchronisierte Häftlingsgemeinschaft. Der Lautsprecher des Lager-Staates dagegen versammelte die Häftlingsgemeinschaft noch physisch auf den Straßen und Sammelplätzen des Lagers. Das Fernsehen ist der Häftlingssammelplatz im Lager des endsiegreichen Produktions-Systems.

Charakteristisch für das Lager ist, dass der freie Mensch über das Leben des Häftlings im Lager nichts weiß. Er phantasiert diesem eine freiwillige Existenz an, in der der Häftling erzogen wird, seine Freiheit zu erwerben. Der Häftling kann mit dem freien Menschen nur in Kontakt treten, soweit er dessen Phantasien entspricht. Da der Häftling in seinem Lager nur über den ihn erziehenden Lagerkommandanten von den Phantasien erfährt, denen er in der Welt des freien Menschen zu entsprechen hat, und da das Fernsehen in seinem nun individualisierten Lager sein einziger Erzieher ist, versorgt er sich mit diesen Phantasien aus dem Fernsehen. Die tägliche grausame Wirklichkeit der Lagerhaft hinter den undurchdringlichen Mauern und menschenleeren Niemandsländern auch des nun individualisierten Lagers, wird sowohl vom Häftling als auch vom freien Menschen ausgeblendet. Der Häftling konstruiert sein Ich als durch und durch phantasierte Figur, denn der freie Mensch kann den Häftling nur in dessen Fernseh-Form wahrnehmen.

Da die Versorgung des individualisierten Häftlings aus seiner Herkunftsgruppe früher oder später aus natürlichen Gründen zusammenbricht, ist er auf die Versorgungs-Institutionen des erschlossenen Landes angewiesen und deshalb zu einem regelmäßigen Umgang mit dem freien Menschen gezwungen. Zwar werden immer mehr Services bis an die Haustür geboten, aber das ist teuer, der Häftling hat für seinen Unterhalt nur ein Dreißigstel des öffentlichen Lager-Kostensatzes zur Verfügung. Letztendlich zwingt ihm sein Selbsterhaltungstrieb den Umgang mit dem freien Menschen auf, also seine phantastische Fernseh-Form zu verwirklichen. Der individualisierte Häftling lebt in ständiger Angst, dem freien Menschen auffällig zu werden und seinen individualisierten Häftlingsstatus zu verlieren. Das Fernsehen führt ihm die Folgen dieses Verlustes drastisch vor Augen: Wahnsinn, Kriminalität und Selbstzerstörung. Die Angst vor der Hölle dieser sozialen Positionierung heftet den individualisierten Häftling endgültig angstvoll an das Fernsehen als Verhaltensvorbild, liefert ihn immer ergebener den Erwartungen des freien Menschen an ihn aus.

Das Produktions-System versucht, die Lagerkosten des individualisierten Häftlings so lange wie möglich zu privatisieren. Selbst wenn der Häftling außerhalb seiner natürlichen Herkunftsgruppe gelagert werden muß, wird der dem Häftling angehörige freie Mensch zur Finanzierung herangezogen, auch wenn dadurch der freie Mensch ökonomisch

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