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besonders viel zusteht, der ein besonders sachkundiger und anspruchsvoller Käufer ist. Das Fernsehen suggeriert dem Häftling, daß es nicht um die Sachkenntnis geht, als freier Mensch im Produktions-System zu arbeiten, sondern um die Sachkenntnis, die Arbeits-Produkte des freien Menschen zu konsumieren, ja, daß dem freien Menschen ohne diese mühsam im Fernsehen angeeignete Sachkenntnis eigentlich der Konsum seiner Produkte nicht zusteht. Letztlich ist der Häftling überzeugt, daß sein Tod als Konsument der größte Schaden ist, den das Produktions-System erleiden kann, und wenn das Produktions-System ihn liquidiert, wird es selbst zu Grunde gehen.
Bei der Erforschung des Fernseh-Lagers geht es ganz und gar nicht um die Verfügbarkeit der neuesten und ausgefeiltesten Technik. Auch die Seele im alten Lager-Staat wuchs und erkannte sich mit den einfachsten Mitteln. Die Samisdat-Literatur ist dafür ein vorbildliches Beispiel. Informationen, die nicht vom Produktions-System des Lager-Staates verteilt wurden, wurden von Häftling zu Häftling weitergegeben, wobei der Häftling diese Informationen vor der Weitergabe durch Abschreiben vervielfältigte und somit unterhalb des öffentlichen ein häftlingseigenes Produktions-System realisierte. Tausend gelesene Bücher bewirken ja mehr, als hunderttausend vertriebene. Das Studium des Überlebens- und Befreiungskampfes in den Lagern der erschlossenen und unerschlossenen Länder kann das Überleben im und die Befreiung aus dem Lager des endsiegreichen Produktions-Systems unterstützen.
Das Fernseh-Lager kann hinreichend auf der Basis intelligenter und kreativer Anwendung von TV-Programm-Zeitschriften, Video-Recordern und PC’s zu Sinnfindung, Wachstum und Erkenntnis des Häftlings genutzt werden. Das muß aber wirklich innerhalb des Fernseh-Lagers geschehen, denn, wie Solschenyzin schreibt: Die Wahrheit über das Lager kann nur berichten, der seine Seele darin großgezogen hat und es dafür segnet, dass es in seinem Leben gewesen ist. Er berichtet immer auch im Gedenken an die, die nicht genug Leben dazu haben. Es geht um das individuelle, immer subjektive Erleiden dieses grausamen Universums mittels des ins Fernsehen gelagerten Häftlings-Lebens und nicht um fachdisziplinarische Felduntersuchung.
Die Seele im Fernseh-Lager großziehen kann nur, der innerhalb des Lagers, und gerade dieses unmenschlichen Isolations-Lagers der Bildschirm-Einsamkeit, der untilgbaren Kraft des Menschen begegnet, den das Prozent oder Promill Samisdat-Information erreicht, das im 24-stündigen Dreißig-Kanäle-Strom des Fernsehens mitfließt, der einen Weg findet, den Absendern dieser Information sein Verstehen als Beweis, daß da ein Empfänger existiert, zur stützenden Rückmeldung zu geben. Der Bericht über diese Kraft des Menschen wird den freien Menschen erreichen, und den freien Menschen zu erreichen ist der Sinn des Häftlingslebens.
II. Die Filmkuppel des Fernsehens
Der Lebenssinn des freien Menschen liegt im Erwerb des Unterhalts mittels Arbeit im Produktions-System. Diesen Unterhalt konsumiert der freie Mensch während seiner Freizeit mit seinem angehörigen Häftling in Hinblick auf den Lebenssinn dadurch, daß er so die Arbeitswilligkeit im Produktions-System erneut konditioniert. Das wichtigste produktions-system-orientierte Unterhaltsmittel ist das Fernsehen. Es dient zur Sicherstellung der Willigkeit des freien Menschen über die Freizeit hinweg. Das geschieht durch sinnlose Unterhaltungs-Sendungen, auf daß es den freien Menschen aus der toten Zeit im Kreis seines Angehörigen in die sinnvolle Zeit des Produktions-Systems zieht.
Denjenigen, der durch widrige Umstände in die Zeit außerhalb der allabendlichen Freizeit-Unterhaltung verschlagen wird, inhaftiert das Fernsehen von 8 bis 18 Uhr, denn das Produktions-System hält den freien Menschen in diesen Stunden ebenfalls fest.
Der Mensch kann ohne Sinn nicht leben. Der Sinn des freien Menschen ist die Arbeit im Produktions-System. Damit der Häftling nicht am Produktions-System vorbei ein eigenes sinnstiftendes System errichtet, muß er von 8 –18 Uhr inhaftiert werden. Das Fernsehen hat während dieser Stunden die Aufgabe, den Häftling so hinreichend mit Sinn zu versorgen, daß sein Bedürfnis danach befriedigt und dabei der Sinn des freien Menschen nicht konterkariert wird.
Das Tagesprogramm des Fernsehens hatte ursprünglich den individualisierten Häftling zur Arbeit im Produktions-System zu erziehen. Diese Wurzel steckt im Schul- und Informationsfernsehen. Doch schon seit langem ist die individuelle Lagerung des arbeitsbehinderten Häftlings die eigentliche Aufgabe des Tagesprogramms. Der arbeitsbehinderte Häftling sieht keinen Sinn mehr in seiner Ausbildung durch das Schul- und Informationsfernsehen. Filme und Talkshows müssen seine Sinnsuche ansaugen, aber eine Sinnsuche, die nicht durch Ausbildung definiert sein darf. Die Sinnstiftungselemente des Fernsehens für den individualisierten Häftling müssen eine Struktur haben, daß sie im arbeitsbehinderten Häftling, der ohne Sinn nicht leben kann, einen Sinn dahingehend erzeugen, daß er die Arbeit des freien Menschen im Produktions-System achtet und er selbst einsieht, daß sein persönlich einziger Sinn darin besteht, das Produktions-System in zumindest passiv konsumierender Mitarbeit zu erhalten. Das ist am besten dadurch zu erreichen, daß die Film- und Talkshowwelt des Fernsehens die Brutalität der Welt außerhalb des Fernseh-Lagers so drastisch vor Augen führt, daß der Häftling den freien Menschen für seine Arbeit im Produktions-System bewundert und ergeben resigniert an seinem ‚Arbeitsplatz’ Bildschirm bleibt.
Die mittelalterliche Tafelbildmalerei hatte den Zweck, den Häftling durch die Brutalität des dargestellten Geschehens und den Pomp der Herrschaft in die bestehende Ordnung ergeben und dankbar für sein nacktes Leben-Dürfen einzubinden und ihn als aus dem dargestellten Leid der Heiligen und dem Pomp der Herrschenden phantasierten Protagonisten des Tafelbildes nach Ablauf des augenblicklichen Weltzustands in einem späteren Leben zu belohnen. Bis dahin heißt es für den Häftling nur, ohne auffällig zu werden, ohne das vernichtende Endleid zu erleiden, das heißt ohne Kosten zu verursachen, durchzukommen. Die mittelalterlichen Tafelbilder konditionieren ergebene Verhaltensmuster.
Aber wie die Brutalität des mittelalterlichen Tafelbildes und sein Verweis auf eine fantasierte Seligkeit in einem späteren Leben nur eine durch das Produktions-System verdeckte Sklavensprache zur Verbreitung der Humanität als wahrem Lebenssinn ist, so verdeckt auch das Fernsehen durch Brutalität und resignierte Ergebenheitskonditionierung die Botschaften des wahren Lebenssinns der Zeit. Das spürt der Häftling deutlich im Fernsehprogramm außerhalb der allabendlichen Freizeit-Unterhaltung, aber die Sinnsender im Bildschirm-Wirrwarr zu orten ist eine Reise zwischen heißem Wahnsinn und kosmischem Eis. Die molekül-dünne Leuchtschicht des Fernsehschirms ist nicht tiefer als der Firnis des Tafelbildes.
Die Film-Kuppel des Fernsehens ist die Tafelbildmalerei der Zeit.
Aus dem Nebel, der den individualisierten Häftling im Fernseh-Lager umfängt, erheben sich die Monolithe der Filmkunst und eines Tages erblickt der Häftling staunend über der Serien-, Aktualitäts- und Showberieselungs-Sauce die magisch strahlende Kuppel aus Filmen. Die Film-Kuppel des Fernsehens bezieht ihr Leuchten aus der dem Fernsehen voraufgegangenen Filmwelt, so wie die Filmwelt das ihre aus der dieser voraufgegangenen Theaterwelt bezog. Es ist das dionysische Leuchten des bildungsreligiösen Tempelkults einer