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allerdings kann nach A einen Treff mit B vereinbaren. Der Häftling jedoch hat die Programmstruktur der 30 Fernseh-Kanäle, um daraus mehrfach ausgetauschten Sinn zu ziehen, nicht in der Hand: er muß parallel aufzeichnen und die Aufzeichnungen anschließend zum Zwecke der Korrelationsanalyse in seinem privaten Fernsehkanal serialisieren.
Filme sind den individualisierten Häftling aus der äußeren Welt erreichende Problemkategorisierungen der unübersichtlichen Flut der Zeiterscheinungen, sie sind immer größeren Kollektiven zur Diskussion gestellte Kollektivideen. Die durch die Filme in den individualisierten Häftling einströmenden kollektiven Ideen und Phantasien zu analysieren und in das Häftlings-Leben produktiv zu integrieren, ist Schwerarbeit. Diese Arbeit geschieht aber auch für den zwischenzeitlich im Produktions-System festgehaltenen freien Menschen und in diesem Verständnis macht die Arbeit des Häftlings in der Film-Kuppel des Fernsehens den Häftling selbst zum Modell des freien Menschen.
Der individualisierte Häftling kann sich durch persönliche Arbeit im 24-stündigen Dreißig-Kanal-Strom innerhalb der gegebenen täglichen Grenzen befreien. Er kann durch diese Arbeit dem im Produktions-System festgehaltenen freien Menschen ein Sinnwerkzeug für dessen Freizeit zur Verfügung stellen, etwa vier Stunden täglich aus dem Privatkanal seiner erarbeiteten Videothek. Der individualisierte Häftling kann die Kulturmaschine des freien Menschen werden, indem er die Zeitvernichtungsfunktion des allabendlichen Unterhaltungsfernsehens für den freien Menschen konterkariert. Staatsfeindlich ist das insoweit, als der Privatkanal des Häftlings nicht sicherstellen kann, daß bei dessen Konsum der Lebenssinn des freien Menschen das am nächsten Morgen wieder aufzusuchende Produktions-System ist.
Der freie Mensch spürt sofort, daß der Privatkanal des Häftlings dem alten humanistischen Tempelkult anhängt. Wenn der freie Mensch mit dem Häftling zusammen diesen Kanal konsumiert, weiß er, daß er sich verbotenerweise vom allabendlichen Fernsehstrom des produktions-systemischen Kollektivs abkoppelt und er spürt die Gefahr, leichtsinnig seine Willigkeit zu gefährden. Wo zwei oder drei in Dionysos Namen zusammen kommen, sendet sein numinoser Fernseh-Kanal.
Die Film-Kuppel des Fernsehens ist übersäht mit Titeln, hinter denen sich ein zwei Stunden dickes Gewölbe abzurufender Filme befindet. Die Filmtitel strukturieren die Geographie des erschlossenen Landes – aber wie vormals die Themen der Tafelmalerei und die Titel der Bücher verstellen sie das Land auch. Titel und Inhalt von Filmen und Büchern sind aufeinander orthogonal bezogen, denn ein Titel darf den Inhalt nur aufreißen, er muß die Aufmerksamkeit des Filmsehers und Lesers wecken, er deutet sein Geheimnis nur an, das letztlich auch nach dem Konsum des Films oder Buches erhalten bleiben muß. Ein Titel muß sicherstellen, daß der Filmseher und Leser auch dann wieder zu diesem Titel greift, wenn er den Film schon gesehen, das Buch schon gelesen hat. Die Orthogonalität von Titel und Inhalt drückt aus, daß der mit dem Titel indizierte Film bereit ist, im Wiederansehen immer wieder mit anderen zwischenzeitlich konsumierten Filmen korreliert zu werden.
Hinter der Kuppel der Filmtitel wölbt sich die Kuppel der Kurzbeschreibungen der Filme, der Plots. Die Film-Plots stehen dem Häftling in der Fernseh-Programm-Zeitschrift und im Videotext zur Verfügung. Film-Plots sind Werbeparolen des Produktions-Systems, das damit dem Filmschaffen aller Zeiten seine aktuellen Erfordernisse aufstempelt. Ein Plot packt den differenzierten Inhalt eines Films in zwei das aktuelle Zeitgefühl treffende knallige Tatsachen-Sätze. Er maßt sich schwarz auf weiß in 200 Worten an, was der Filmkünstler in zwei Stunden Zwischentönen nicht auszuformulieren wagt. Das Produktions-System will durch die Plakativität des Plots erreichen, daß der Plot auch nach Konsum des Films durch den Filmseher das ist, was in dessen Erinnerung bleibt. Die tiefere Information des Film-Universums wird durch die Plot-Kuppel auf die Nullinformation des Erwarteten reduziert.
Ein Plot will im Gegensatz zum Titel, daß der gesehene Film für den Filmseher nach dessen Konsum so für immer abgehakt ist, wie er gesendet wurde. Ein im Fernsehen gesendeter Film soll das einmalige Ereignis bleiben, mit dem der Film zu seinem Sendezeitpunkt dem aktuellen Erfordernis des Produktions-Systems diente. Sein Plot will dem Filmseher suggerieren, daß der Film nichts als eine Illustration des in der TV-Programm-Zeitschrift formulierten Plots ist und darüber hinaus keinerlei sklavensprachliche Information enthält. Das Produktions-System ist an keiner Sinnabsicherung eines Plots durch Korrelation mit anderen Plots interessiert, also auch nicht daran, daß der Filmseher nach Konsumation des nächsten geplotteten Films den vorangehend geplotteten Film noch einmal korrelierend konsumiert und so die Plot-Kuppel vernetzt. Ein Plot will sich nicht auf seinen Nachbar-Plot beziehen. Die Aneinanderreihung der Plots ergibt höchstens eine unfreiwillige, im Grunde immer makabre Komik. Das Fernsehen hat kein Interesse, daß dem Beobachter der Plot-Kuppel beim Lesen der beziehungslos nebeneinander stehenden Plots das Lachen im Halse stecken bleibt. Ein Plot soll alleine stehen wie eine Lichtreklame.
Der Weg durch die Plot-Kuppel derjenigen Filme, die der Häftling für seine Sinnfindung erwählt, schafft eine abweisend brutale Haut über der humanen Film-Botschaft, so wie die brutale, den Häftling ergeben auf ein späteres Leben vertröstende Szenerie der mittelalterlichen Tafelbilder die Lehre der Humanität versteckt. Der Weg durch die Plot-Kuppel der vom Häftling für seine Sinnfindung ausgewählten Filme ist die Sklavensprache des Fernseh-Lagers, sein Samisdat. Die Plot-Kuppel aller Filme überhaupt trieft von Trivialität, sie ist eine unverdauliche Schmalz-Zuckergusshülle. Die Film- und insbesondere die Plot-Kuppel des Film-Universums ist heißeste Forschungsmaterie über die Befindlichkeit des Fernseh-Lagers.
Der Weg durch die Plot-Kuppel der vom Häftling für seine Sinnfindung ausgewählten Filme ist die Sklavensprache, das Samisdat, des Fernseh-Lagers. So wie der mittelalterliche Häftling vor den Potentaten die Darstellung der Kreuzigung als Aufruf zur Nachfolge Christi und damit seines Eingangs ins jenseitige Paradies pries – dieselbe Darstellung aber als Code vor seinen Mithäftlingen für den Aufruf zum Sturz der Potentaten im Hier und Jetzt verwendete, so bewundert der Fernseh-Häftling vor dem freien Menschen den im Film-Plot kolportierten letztendlichen Sieg des Produktions-Systems zum Wohle des entwickelten Landes gegen alle Mächte des Bösen – derselbe Plot ist ihm aber auch das Code-Wort an seine Mithäftlinge zum Sturz des Produktions-Systems überhaupt. Die brutale Haut der Plot-Kuppel der für seine Sinnfindung ausgewählten Filme ist dem individualisierten Häftling eine Schutzschicht für die von diesen Filmen aufgedeckte Verletzlichkeit der Humanität. Sie soll den Uneingeweihten abschrecken, damit er des Häftlings Humanität nicht wahrnimmt und dieser Humanität nicht als vermeintliche Ursache der Arbeitsbehinderung den Weg abschneidet.
Die Plot-Kuppel zeigt dem freien Menschen die Brutalität, mit der das Böse ihn und sein Produktions-System vernichten will – und daß das Böse das Produktions-System vernichten wird, wenn der freie