Fernsehen am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts - Page 10

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Gedicht-Antologie -realisiert den Häftling als eigenständiges Subjekt im Kontext des erschlossenen Landes. Klarer als jede aus ihm herausgezogene Landschaft innerpsychischer Bilder, diagnostiziert es ihn im Verhältnis zum Kultur-Horizont des Produktions-Systems. Es spezifiziert seine aktuelle Kommunikationsdimension. Der Häftling des Fernseh-Lagers zieht aus der Kartographie des durch die Summe aller Filmkünstler gestalteten Film-Universums seinen individuellen Geistfilm wie Leonardo vor fünfhundert Jahren aus der von den Naturkräften verwitterten Klosterwand. Der Häftling ist Kulturforscher im Fernsehen wie Leonardo Forscher in den physikalischen Erscheinungen der Natur war. Die aus der Seelenarbeit des Häftlings in der Film-Kuppel des Fernsehens heraustretenden Geistmuster sind Speicherabzüge der alle Ahnenreihen umfassenden Verhaltensstrukturen, die durch die Film-Kuppel resonanzhaft aktiviert und im Häftling neu generiert und vernetzt werden. Der Kampf des Häftlings in der Film-Kuppel ist ein Kampf mit allen menschlichen und göttlichen Ahnen. Das Ringen Leonardos in der verwitterten Klosterwand war dagegen - nur - physikalisch-vegetativ, außermenschlich.

Der Häftling wurde vom ersten Tag seiner Geburt an zugerichtet. Darin unterscheidet er sich nicht von den durch die Kompetenzen des Produktions-Systems seit eh und je zugerichteten Menschen. Das moderne Produktions-System aber braucht den freien Menschen. Das geschieht dadurch, daß der Mensch entdeckt, daß er sich dem Zurichtstrom zeitweise entziehen kann, wenn er im Produktions-System arbeitet. Der heute zuzurichtende Mensch wird dadurch zum Häftling, daß er nie die Erfahrung machen konnte, daß er sich durch freiwillige Arbeit im Produktions-System der Zurichtung entziehen kann. Sich ohne freiwillige Arbeit der Zurichtung zu entziehen, macht ihm Schuldgefühle und trennt ihn früher oder später von der Versorgung durch das Produktions-System ab. So wartet er Zeit seines Lebens auf den Zurichtstrom, um versorgt zu sein wie seit seiner Kindheit. Diese Situation ist existentiell. Einerseits befriedigt das Fernsehen das Zurichtbedürfnis des Häftlings als Abwehr seiner Existenzangst, andererseits ist die dauernd aufrechterhaltene Wartestellung des Häftlings auf Zurichtung die nie abreißende Möglichkeit, daß das Produktions-System oder eine andere Instanz mit ihm Kontakt aufnimmt. Wenn der Häftling gar noch erkennt, daß sein Zurichtungsbedürfnis auch für ihn selbst die Möglichkeit ist, mit sich Kontakt aufzunehmen, kann er die Zweipunkte-Film-Kuppel produktiv dafür benützen, sich selbst mit dem darin enthaltenen Sinn neu zuzurichten. Diesen Weg beschritten auch schon die literarischen Kulturen, sie erzeugten über schulische Bildung literarische Empfangsbereitschaft, um damit den Leser mit der Bibel oder mit den Klassikern zuzurichten.

Woher aber kommt die Zweipunkte-Film-Kuppel? Woher kamen Bibel und Klassiker? Sie wurden Johannes, dem Schreiber auf Patmos von Gott und dem Dichter von den Musen diktiert. Die Informationen der Zweipunkte-Film-Kuppel erreichen den Häftling mit derselben Sklavensprache, die auch der Auftragskünstler des mittelalterlichen Tafelbildes sprach. Sie kommen aus dem Unbewussten des menschlichen oder gar biologischen Kollektivs.

Es ging immer darum, den Menschen im dumpfen Zurichtstrom seiner im mord- und totschlagenden Überlebenskampf gefesselten Herkunftsgruppe erst einmal zu erreichen. Ist über diesen Zurichtstrom der Kontakt hergestellt, können neue Informationen eingeschleust werden. Dabei ging es im Grunde immer nur darum, den knapp gewordenen Boden der brutal ökonomisch an die Wand gedrückten und somit Angst und Schrecken verbreitenden Herkunftsgruppe um das Kultur-Universum zu erweitern. Das den lokal an den Boden gebundenen Herrschern und Ahnen ergebene Gehorchen wird abgelöst vom Horchen und Schauen auf die Botschaften aus dem Kultur-Universum.

Das Produktions-System versendet mittels des Fernsehens Willigkeits-Aufforderungen an den freien Menschen. Es kann nicht verhindern, daß dabei im Häftling subjektive Geistfilme entstehen, die des Häftlings Situation und nicht der Situation des im Produktions-System arbeitenden freien Menschen entsprechen. Das Produktions-System kann diese Geistfilme nur soweit verhindern, soweit es das Zurichtungsbedürfnis des Häftlings befriedigt. Ist der Häftling erst einmal auf den Geschmack gekommen, dann kann er mit einfachsten technischen Hilfsmitteln daran gehen, aus dem Zurichtstrom des Fernsehens die Zweipunkte-Film-Kuppel und die darin für ihn als Individuum persönlich bestimmten Informationen zu filtern. Diese Arbeit muß der Häftling ganz konkret tun – er kann diese Arbeit nicht dadurch umgehen, daß er sich beispielsweise aus einer öffentlichen Videothek die entsprechenden Filme besorgt. Die Filme der öffentlichen Videotheken sind völlig kontextlose Isolate, denn sie sind nicht über die Zeit-Dimension mit dem Alltag im Fernseh-Lager synchronisiert.

Der Häftling muß täglich mühsam üben, sich aus dem Unterhaltungstor des Produktions-Systems die für ihn nötige Nahrung zu fischen und sie im täglich neuen persönlichen Kontext für sein Wachstum oxydieren. Die für seine Sinnfindung bestimmten Informationen erreichen ihn immer, egal wo er sich gerade befindet. Das ist eine Folge der Synchronität aller Vorgänge im erschlossenen Land. Durch die Lager-Synchronität bekommt seine Häftlingsexistenz einen kollektiven Sinn, gerade auch infolge seiner Individualität über diese hinaus. Das Fernsehen wird für den aus dem Produktions-System Ausgegrenzten zur Insel Patmos des Johannes, zum Baum Buddhas, zur Dichter-Kammer Schillers.

Wenn der Häftling im Dunkel seiner lebensfeindlichen Herkunft, unter den Trümmern seines Lebens, erwacht, überfällt ihn eisig die Zurichtungsleere. Mit allen Kräften bäumt er sich gegen seine Liquidation auf und rettet sich zur Sicherstellung seiner Versorgung zum Bildschirm. Er biedert sich mit Viva und MTV an die noch für die Arbeit im Produktions-System zuzurichtende Jugend an, will verlorene Jugendzeit nachholen und sucht von da aus zappend ein Fenster hinaus in die Welt des freien Menschen, um sich schließlich in die Häftlingsgemeinschaft des Fernsehens zu ergeben und so wenigstens seine erste Panik zu überwinden. Das Fernsehen treibt ihn durch Bangemachen über seine Liquidation vom Fensterblick auf den freien Menschen zurück ins Lager, aber das darf ihn, wenn er leben will, nicht schrecken. Er muß hoffen, sich einst selbst wieder aus dem Sumpf zu ziehen, denn der Weg ins Fernseh-Lager ist der Weg in die Isolation. Der Weg ins Fernseh-Lager isoliert den vom Produktions-System Ausgestoßenen von seiner früheren Umgebung, aber die war es ja, die ihn dorthin gebracht hat, wo er sich jetzt befindet. Das Fernsehen ist die Rettung des Häftlings vor der Selbstliquidation, vor dem Haß des Häftlings auf sich selbst. Es ist seine einzige Möglichkeit, hier zu bleiben. Und das macht die wütend, die ihn weg haben wollen.

Das Robben des Häftlings über die Film-Kuppel des Fernsehens ist ein Ein-Personen-Forschungsinstitut. Der Häftling hat in sich selbst sein einziges Betriebsmittel. In diesem Sinn hat er das Institut auch zu betreiben und zu verwalten. Die Ergebniskontrolle seines Forschungs-Projekts kann ebenfalls mit professionellen Methoden institutionalisiert werden.

Die Aufgabe des Häftlings ist, die

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