Fernsehen am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts - Page 13

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Folge des in ihm selbst internalisierten Lagerkommandanten ist. Es wird ihm klar, daß seine Häftlingsschaft unter den freien Menschen durch seine unlösbare Bindung an den Lagerkommandanten weiterbesteht und daß das auch im gegebenen Fall seine selbstmörderische Bindung an das öffentliche, endlösende Lager ist.

Der Häftling kann nur durch das Verschwinden des Lagerkommandanten zum freien Menschen werden. Beim individualisierten Häftling ist das der Abschied vom eigenen Lagerkommandanten-Teil in ihm, des Teils, der ihm im Talkshow-Flat als Buhmann wenigstens noch einen Schimmer von Lebenssinn gibt. So lange gehört alles, was er im Produktions-System verdient, seinem Lagerkommandanten und alles, was er sich aufbaut, gehört zum offenen Haus, zum Flat der Häftlingsgemeinschaft und ist nicht sein persönlicher Besitz. Sein ganzes Streben zielt deshalb unbewusst auf den Erwerb eines nur ihm persönlichen Eigentums, was er der Häftlingsgemeinschaft im Talkshow-Flat verheimlichen muß. Persönliches Eigentum ist der bestimmende Parameter von freiem Menschentum und Häftlingsschaft.]

Während seiner Arbeitszeit im Produktions-System ist der freie Mensch vor dem Talkshow-Flat des Häftlings geschützt. In der Einsamkeit seines Sinnlochs im Falle von Krankheit und Urlaub ist aber auch der freie Mensch anfällig für die Kumpanei im Fernseh-Lager. Selbst ein freier Mensch, der durch seine Herkunftsgruppe konditioniert ist, Sinnlöcher durch Informationsfernsehen, Kulturreisen und Lesen zum Zwecke der Wiederherstellung seiner Produktions-System-Tauglichkeit zu stopfen, ist in Gefahr, inhaftiert zu werden, nämlich in ein sumpfiges Arkadien.

Wie dünn das Eis im bodenlosen Meer über der alles verschlingenden Weltenschlange ist, spürt der freie Mensch an jedem Wochenende, denn er sieht seinen Angehörigen, den er schätzt und achtet, ja den er vielleicht als tüchtiger und schöpferischer empfindet, als sich selbst, vor seinen Augen in diesem Meer versinken. Deshalb flieht der freie Mensch den Krankenstand und überhäuft sich selbst an den Wochenenden und Urlaubstagen mit Produktions-System-Arbeit, anstatt seine Willigkeit wirklich begründet wieder herzustellen. Der freie Mensch befürchtet, daß, wenn er aus Krankheit und Urlaub zurückkehrt, sein Platz im Produktions-System von einem dafür freigegebenen Häftling besetzt ist oder daß das ganze Produktions-System während seiner Ruhezeit zusammenbricht, daß es am Montag nicht mehr da ist. [Diese Angst des freien Menschen ist Folge seiner Promotor-Rolle für das Produktions-System im privaten Bereich und Hinweis auf die Mitverantwortung des freien Menschen für die Lagerung des ihm Angehörigen als Häftling im Fernsehen. Sie zeigt auch die Angst des freien Menschen vor der im Grunde überlegenen Kreativität des Häftlings im Wettstreit um den Arbeitsplatz im Produktions-System. In diesem Kontext inhaftiert sich der Häftling freiwillig, um seinem angehörigen freien Menschen dessen Arbeitsplatz zu sichern.]

Den für die Arbeit nicht mehr benötigten freien Menschen lagert das Produktions-System unerbittlich als Arbeitslosen, Kranken oder Rentner im Fernsehen ein. Die Mitarbeit des freien Menschen zu seiner individuellen Lagerung konditioniert das Produktions-System dadurch, daß es ihm durch sinnlose Umschulungen seine Unbrauchbarkeit vorführt oder ihm einen Arbeitsplatz zuweist, der seiner als Krankheit definierten Ungeeignetheit für seine bisherige Aufgabe oder der seiner im Produktions-System angesammelten Erfahrung nicht entspricht. Anstatt für den ihm zustehenden Arbeitsplatz im Produktions-System zu kämpfen, nimmt der freie Mensch seine Lagerung als Häftling im Fernseh-Lager schließlich auch noch aus Rücksicht zum Produktions-System an, nämlich um das Produktions-System von der Belastung, die seine nicht mehr benötigte Person für das Produktions-System darstellt, zu befreien. Er verklärt das ihn ausstoßende Produktions-System aus Angst vor der nachträglichen Sinnloswerdung seiner bisherigen Identität.

Der aus dem Produktions-System in das Fernsehen ausgelagerte freie Mensch zeigt, daß es in Wirklichkeit nicht um die Willigkeit, im Produktions-System zu arbeiten, geht, sondern darum, willig zu sein, dem Produktions-System zur Verfügung zu stehen, wenn es den Menschen braucht, aber auch willig zu sein, sich ins Fernsehen einlagern zu lassen, wenn dieser vom Produktions-System nicht gebraucht wird. Die Willigkeit des freien Menschen, im Produktions-System zu arbeiten entspricht der Willigkeit des Häftlings, sich im Fernsehen einlagern zu lassen.

Der vom Produktions-System nicht mehr Benötigte wird zwischen dem Sinnloch der fehlenden Arbeit und dem Eishauch der Liquidation in einer unbekannt drohenden Einsamkeit atomisiert. Vom Talkshow-Flat des Tagesfernsehens freudig als Mitglied begrüßt, wird der vom Produktions-System verstoßene freie Mensch als Demonstrationsobjekt der Sinnlosigkeit des Lebens als freier Mensch im Produktions-System und damit als neuer Sinnspender des Häftlingsdaseins seinem ganzen bisherigen Leben entfremdet. Die Bestätigung seines Hasses auf den weiterhin freien Menschen, der seiner Verstoßung aus dem Produktions-System tatenlos zusah und seine Arbeitskollegenschaft verriet, durch das Talkshow-Flat benebelt ihn, die engagierte Aufklärung über sein vergangenes falsches Selbst im Produktions-System als einer von diesen Verrätern durch das Talkshow-Flat amputiert ihn vollkommen. Es wird dem aus dem Produktions-System Verstoßenen klar gemacht, daß der Verrat des im Produktions-System zurückbleibenden freien Menschen an ihm die gerechte Strafe ist für seinen eigenen Verrat, den er am Häftling mit dessen Einlagerung im Talkshow-Flat beging. Der aus dem Produktions-System Verstoßene wird zum hilflosen, zwischen verzweifelter Wut und Schuldgefühl über sein pures Existieren zerrissenen Säugling.

Das Schuldgefühl über und Mitleid mit seinem Angehörigen hinsichtlich der früheren Existenz des Verstoßenen im Produktions-System brechen auf und in seiner Umwelt sieht er nichts als den plötzlich ausbrechenden, lange vor ihm geheim gehaltenen Spott über und die endliche Rache an seiner bisherigen Identität. Der aus dem Produktions-System Verstoßene wird jetzt dadurch real zum Häftling innerhalb des nun produktions-system-fernen Alltags. Er spürt, daß sich die Umwelt über sein Unglück freut, sich mit dem Verräter im Produktions-System verbündet. Er, auf dessen Arbeit bis jetzt die individuelle Lagerung des Angehörigen ruhte, fällt nun als Versorger seines Angehörigen aus und er lädt damit die Schuld auf sich, daß der bisher von seiner Arbeit abhängige Angehörige mit der Liquidation im öffentlichen Lager bedroht wird. Mörderische Emotionen zerreißen den aus dem Produktions-System Verstoßenen auf dem blutigen Schlachtfeld seines Privaten.

Das Produktions-System hat den nicht mehr benötigten freien Menschen verstoßen, der Arbeitskollege hat ihn verraten, der Angehörige, den er nun nicht mehr versorgen kann, verlässt ihn, das Talkshow-Flat umarmt ihn schleimend. Das vor Augen geführt zu bekommen erfüllt den ehemaligen Arbeitskollegen mit Angst und kettet ihn noch mehr an das Produktions-System. Auch der Freund verläßt den Verstoßenen, denn dessen Angehörigen erfasst seinerseits die Angst vor der Einlagerung seines freien Menschen als Häftling ins Private. Der freie Mensch wird durch das Beispiel des vom Produktions-System Verstoßenen zerrieben zwischen der Angst vor seinem ebenfalls drohenden Ungenügen

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