Fernsehen am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts - Page 12

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ist ein Detektiv, umgeben von ihn irreführenden und einschüchternden, zum Äußerstem entschlossenen Äbten.

Durch die Videothek des Häftlings wird der Tageshorizont des erschlossenen Landes zu den vier Stunden, die das Videoband dieses Tages im Fernseh-Lager ausstrahlt. Die anderen tausend Bänder der Videothek sind Parallelhorizonte des erschlossenen Landes. Hinter jedem Punkt eines Videobandes liegt der Kosmos der körperlichen Dinge des erschlossenen Landes.

Der Häftling blickt auf das durch die Titel-Kuppel des Film-Universums über das erschlossene Land gelegte Netz der Begriffe. Die Gesamtheit der gemittelten Bedeutung jedes dieser Begriffe wölbt sich in der Schattenhöhle seines Gehirns als flimmernde Sphäre. Ohne Begegnung wird sie aber gespensterhaft bleiben.

III. Das Talkshow-Flat

Der vom Lagerkommandanten nicht als Arbeiter im Produktions-System des erschlossenen Landes ausgewählte und damit nicht für die Freiheit wert befundene Häftling wurde im sinnlosen Lageralltag zerrieben. Der Lagerkommandant ließ den Häftling an den ungeraden Tagen Steine von A nach B schleppen und an den geraden Tagen dieselben Steine von B nach A zurück schleppen. Obwohl vielleicht der Lagerkommandant das als Erziehungsmaßnahme verstand, um für das Produktions-System einen weiteren freien Menschen zu schaffen, machte das den Häftling immer nur produktions-system-unbrauchbarer, auch wenn dieser realisierte, daß sein einziger Ausweg, der Zermürbung im Lageralltag zu entkommen, war, produktions-system-brauchbarer zu sein. In Wirklichkeit aber zog der Häftling den sinnlosen Lageralltag im Kreise seiner Mithäftlinge einem Arbeitstag im Produktions-System als Häftling unter freien Menschen vor. Den Ertrag dieses Arbeitstages verwendete der Lagerkommandant sowieso nur für sich, nämlich zur Weiterführung des Lagers. Deshalb fand der Häftling in seiner Existenz als lebender Vorwurf gegen seine Haft im Lager, auch mit dem Risiko seines endgültigen Untergangs, mehr Sinn, als in seiner als freigehender Häftling jederzeit suspendierbaren Mitarbeit im Produktions-System.

Der Häftling, der sich über die Film-Kuppel des Fernsehens befreit, befreit sich aus den Schuldgefühlen, die ihn während der Zeit von acht bis achtzehn Uhr überfallen, in der der freie Mensch seinen Sinn in der Arbeit im Produktions-System findet. Die Befreiung kann ihm dadurch gelingen, daß er als individualisierter Häftling auch sein eigener Lagerkommandant ist. Dazu muß er lernen, einen ihm anvertrauten Häftling, also sich selbst, als Menschen zu achten. Er muß verstehen, daß der Lageralltag den Häftling eher entmutigen soll, als ihn zum freien Menschen zu konditionieren. Der Lageralltag des Fernsehens ist das Tagesprogramm von acht bis achtzehn Uhr. Das Forum der individualisierten Häftlingsgemeinschaft ist der Bildschirmkessel der Talkshows.

Weshalb ein bestimmter Häftling sich bzw dessen Lagerkommandant ihn aus der Strafarbeit des Steineschleppens entlässt in eine sinnstiftende Lagertätigkeit, ist ohne Bedeutung. Es gibt Beispiele - menschenfreundlicher - Lagerkommandanten. Ob sie menschenfreundlich sind aus Machttrieb oder weil sie eine erfolgreichere Psychologie zur Erziehung des Häftlings vertreten, wissend, daß ein arbeitswilliger Häftling billiger kommt als ein arbeitsunwilliger, das ist ohne Bedeutung. Eine Laune des Lagerkommandanten oder ein Zufall beordert den Häftling zum Beispiel zu einer Tätigkeit in der Lagerverwaltung, den letzten Rest des lagereigenen Produktions-Systems in entwickelten Land. Eine humanistische Ausbildung oder eine intellektuelle Herkunftsgruppe führt den individualisierten Häftling dazu, die Film-Kuppel des Fernsehens zu durchrobben, um dort vielleicht das wenn auch noch so schwache Licht des Häftlingssinns zu entdecken, anstatt sich der Steineschlepperei im Talkshow-Flat zu verpflichten.

Den aus dem Produktions-System genommenen und in den Lageralltag eingewiesenen Häftling, der das Fernsehen bis jetzt nur als allabendliche Unterhaltung kannte, überfällt das Tagesprogramm von acht bis achtzehn Uhr wie ein Schock. Er entdeckt die Kumpanei der vom Produktions- und Schul-System ausgeschlossenen Angehörigen. Das Talkshow-Flat des Tagesfernsehens wurde so radikal vor dem freien Menschen geheim gehalten, daß dieser von ihm an den arbeitsfreien Tagen nichts bemerkte. Das führt ja auch während der arbeitsfreien Tage zu einer Sinnkrise im Häftling, die synchron ist der Sinnkrise des freien Menschen während dieser Tage. Wie der freie Mensch nach der toten Zeit der arbeitsfreien Tage die lebendige Zeit des montäglichen Produktions-Systems ersehnt, so der Häftling den montäglichen Talkshow-Alltag.

Was das Talkshow-Flat im Häftling konditioniert, damit dieser trotz seiner Mitbürgerschaft mit dem freien Menschen während der arbeitsfreien Tage lieber am Montag in das Talkshow-Flat zurückkehrt, als vielleicht jenem in das Produktions-System zu folgen, ist ein eigenes Forschungsthema. Das Talkshow-Flat erzeugt im Häftling eine Mischung aus Verachtung für und Haß auf den freien Menschen, eine Mischung aus Anspruch nach Versorgung durch das Produktions-System und Schuldgefühl dem freien Menschen gegenüber, nicht selbst für seine Versorgung aufzukommen. Das Talkshow-Flat vertieft des Häftlings Arbeitsbehinderung bis hin zur Produktions-System-Unbrauchbarkeit und internalisiert sie im Häftling als schicksalhaft persönlichen Defekt. Den Häftling zieht es suchthaft in die tägliche Lust des Talkshow-Flats, um damit seine ununterbrochene Schuld-Angst vor seiner Unbrauchbarkeit im Produktions-System zu verdrängen. Diese Lust verheimlicht er vor dem freien Menschen und er ist froh, wenn er von der Anstrengung dieser Verheimlichung an den arbeitsfreien Tagen durch das Verschwinden des freien Menschen ins Produktions-System befreit ist. Der Häftling hat Angst, daß der freie Mensch das Talkshow-Flat wahrnimmt und daß dieser es als Finanzier des individualisierten Lagers liquidiert und den Häftling in das öffentliche Lager schickt, das dann aus Kostengründen vom Produktions-System liquidiert wird. Die Angst des Häftlings vor dem freien Menschen um seine Existenz im Talkshow-Flat wird vom Talkshow-Flat selbst geschürt, da dort der freie Mensch als der Promotor des Produktions-Systems definiert wird.

[Das Leid des individualisierten Häftlings ist spezifisch, da im Fernseh-Lager der Lagerkommandant im Häftling selbst internalisiert ist. Zwar weiß der Häftling, daß sein internalisierter Lagerkommandant ihn für die Arbeit im Produktions-System freigeben würde, aber vordergründig nur, damit der Häftling seine Lagerkosten selbst finanziert, denn nach dem Arbeitstag unter den freien Menschen im Produktions-System muß der Häftling in seine Fernseh-Zelle zurückkehren. Deshalb zieht er das Talkshow-Flat der Mithäftlinge dem Umgang mit dem freien Menschen im Produktions-System vor. [Der Häftling kann sich erst dann über das Produktions-System befreien, wenn er zuerst seine Wohn- und Lebenssituation entlagert hat. Dies kann er in der Regel aber erst, wenn er genug Geld im Produktions-System verdient hat. Dieses Henne-Ei-Problem kann der Häftling nur lösen, wenn er von außen für den Neustart seines Lebens Hilfe bekommt. Er kann sich nicht selbst aus dem Lager befreien.] So wird dem individualisierten Häftling im Fernseh-Lager klar, daß sein willentliches Verbleiben im Lager nicht die Gemeinschaft mit den Mithäftlingen meint, sondern daß es

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