Fernsehen am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts - Page 15

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ihn schließlich die individuelle Lagerung ereilen. Denn ein isoliertes Sparen dient nur seinem ahnengeisternden Lagerkommandanten und sein wochentägliches Arbeiten im Produktions-System enthüllt sich damit als selbstquälerisches Täuschungsmanöver. Die unabwendbare Abhängigkeit des freien Menschen von der Freizeit-Schickeria ist Folge der produktions-system-immanenten Fragmentierung des Existenzzusammenhangs.] Der freie Mensch seinerseits kann vom Häftling als Fun-Spezialisten nur dann unterstützt werden, wenn er den Häftling während seiner Freizeit als freizeit-freien Menschen stilisiert.

Mit den Fernseh-Serien soll dem Häftling der Anspruch auf die Freizeit des freien Menschen infiltriert werden. Durch die Finanzierung der Teilnahme des Häftlings an der Freizeit-Schickeria gibt der freie Mensch seine Schuld über die wochentägliche Lagerung des Häftlings in das Fernsehen ab. Er bindet durch den auf seine Privatkosten gehenden doppelten Umsatz der Freizeit-Industrie den Häftling ja tatsächlich in das Produktions-System ein, wobei die fehlende Arbeit des Häftlings im Produktions-System durch die vom Produktions-System gebrauchte Mehrarbeit des freien Menschen substituiert wird. [Die Beteiligung des freien Menschen an der Freizeit-Schickeria ist nicht wirklich ein finanzielles Problem. Es geht nur darum, daß er alles in der Freizeit ausgibt, egal wie hoch sein Einkommen ist, um weiterhin produktions-system-abhängig zu sein und im Rückzug in seine vier Wände kein Konto zur Errichtung eines eigenen Systems anspart.]

Der freie Mensch ist in der Freizeit außerhalb des Fernsehens vom Häftling verschont. Dort verkehrt sich das Schuldgefühl des freien Menschen dem Häftling gegenüber in Verachtung dem Häftling gegenüber um. Soweit der Häftling selbst zu dieser Freizeit Zutritt erlangt, infiltriert sie auch ihm Verachtung gegen sein Häftlingstum und seine Mithäftlinge. Der freie Mensch fühlt sich in der Freizeit-Schickeria als etwas besseres als der Häftling, er wird endgültig von der Gemeinschaft aller Menschen gelöst, aber vor allem von seinem angehörigen Häftling. Dieser muß nun auch noch um seine armselige Fernsehexistenz bangen, wenn er den Hochmut des freien Menschen verärgert, denn der freie Mensch will in seiner Freizeit auch noch den Anteil seines Lohnes, den er zur Finanzierung der Fernseh-Lagerung seines arbeitsbehinderten Angehörigen verwendet, mit der Freizeit-Schickeria konsumieren. [Er will ja eigentlich auch nicht den verbleibenden Rest seines Lohnes in seiner Freizeit mit dem Häftling teilen. Er tut das nur, um die Schande des arbeitsbehinderten Angehörigen vor der Freizeit- Schickeria zu verbergen. Umgekehrt muß ein freizeit-unfähiger freier Mensch seinen Angehörigen inhaftieren, um all seinen Lohn zu verbrauchen und weiterhin produktions-system-abhängig zu bleiben.]

Die das Produktions-System, das Fernseh-Lager und die Freizeit integrierende Fernsehstruktur ist allenthalben verifizierbar, im Tages-, Abend-, Nacht- und Feiertagsprogramm. Exemplarisch dafür sind die Tages-, Abend-, Nacht- und Feiertags-Filme des Film-Universums. Das Fernseh-Lager ist dabei gar nicht geheim wie es die alten Lager waren, alles steht überall dem Forscher des Fernseh-Lagers offen. Ja es scheint, daß diese Öffentlichkeit den Forscher eher dazu anreizt, sich auch am Wettlauf der Talkmeister um die Häftlings-Torte zu beteiligen, als dazu, das Grauen dieses Fraßes zum Gesamtwohl des erschlossenen Landes zu realisieren. Der Forscher verwendet ohne Bedenken diesen Tortenfraß, um damit den Mund seines Kindes zu stopfen und sich der anstrengenden Freude zu entheben, mit ihm durch Wald und Flur zu wandern.

Das Talkshow-Flat ist für den individualisierten Häftling nach dem Zusammenbruch des alten Lagers der erste Rettungsanker vor dem völligen Verschwinden in die Materie endgültig verrottenden Mülls. In das Talkshow-Flat einzutauchen ist für den individualisierten Häftling zunächst eine mutige Tat und Entscheidung. Er entscheidet sich, wieder sichtbare Gestalt anzunehmen. Er entscheidet sich, nach dem Trauma der wie aus heiterem Himmel über ihn kommenden Verhaftung seine einsame Verzweiflung zu verlassen und sich der Häftlingsgemeinschaft anzuschließen. Dieser Schritt amputiert zwar sein bisheriges Leben und taucht seinen Geist in den undurchdringlichen Nebel seiner vom Lagerkommandanten völlig abhängigen Existenz. Wenn er aber realisiert, daß das Fernseh-Lager nur die andere Seite des Produktions-Systems ist, daß er im Grunde das das Leid tragende Geschwister des anscheinend glücklicheren freien Menschens ist und daß er damit sogar dessen Schutzengel ist, dann gibt ihm das mitten im Talkshow-Flat Menschenwürde und durch diese seine Erkenntnis auch den Mithäftlingen.

Die Titelfolge der tagein tagaus über Monate und Jahre über den Bildschirm auf den Häftling strömenden Talkshows zeigt genau die in jedem Augenblick synchrone Verschränkung des Fernseh-Lagers mit dem Produktions-System. Die vom Talkshow-Flat dem Häftling aufgeprägte Hauptbindung zum Produktions-System ist Scham, Wut und rachelüsterner Wiedergutmachungsanspruch, verkleidet als Emanzipation und Kampf um Gerechtigkeit gegen Männer, Frauen, Kinder, Eltern, Institutionen, Gott und die Welt. Die Gehirnwäsche im Talkshow-Flat konditioniert ein dauerndes Bewusstsein persönlicher ökonomischer und sexueller Frustration.

Die Titelfolge der Talkshows ist ein stringenter Kugelhagel destruktiver Konditionierungen. Jeder amoklaufende Häftling wird von der Häftlingsgemeinschaft als todesmutiger Revolutionär beklatscht. Wenn an dem Unglücklichen das Produktions-System dann ein abschreckendes Beispiel statuiert, schlägt der Jubel der Häftlingsgemeinschaft in scheinheiligen Zorn und Schadenfreude um. Es ist die Schadenfreude desjenigen, der in seiner suchtgeschwängerten Trägheit schon immer wusste, daß jede Änderungsanstrengung sinnlos ist, der darauf wartet, ohne eigene Anstrengung befreit zu werden, den Befreier aber haßt.

Wissen die Macher der Talkshows, welchen Zweckes Werkzeug sie sind? Macht sie nicht stutzig, welch ungeheure Mittel ihnen durch Geld und riesige Teams zur Verfügung gestellt werden, daß sie, die Anwälte des im Talkshow-Flat um sein Leben kämpfenden Häftlings, hochdotierte Stars des Produktions-Systems sind? Sind sie nicht Agents Provocateurs zur Konditionierung seiner amoklaufenden Selbstliquidation? Retter sind sie auch, nämlich für den, der ohne das Talkshow-Flat überhaupt keine Bleibe hat.

Der Hochmut des freien Menschen über den Talkshow-Sex und -Schleim ist unehrlich, wie es der Vorwurf der Verdummung durch das Fernsehen als ganzes ist. Dem freien Menschen ist nur menschenwürdig, der Geld genug für die aktuelle Kultur-Schickeria hat. Ein Buch für den Preis einer Sozialhilfe-Woche zu kaufen ist ihm selbstverständlich, für Kino, Vortrag, Mediennutzung das Versorgungsgeld mehrerer Häftlingstage hinzublättern, ist ihm kein Problem. Die Kosten der Schickeria-Kultur gegen den Zigaretten- und Alkoholkonsum im Häftlingslager aufzurechnen ist obszön. Sucht ist ein Überlebensmittel inmitten von Mord und Totschlag. Das erfährt der freie Mensch bereits innerhalb seiner Freizeit an sich selbst. Es geht nicht darum, das Fernsehen zu verteufeln, es geht darum, daß der freie Mensch seinem eigenen Affen ins Gesicht sieht, den er durch Verteufelung des Fernsehens und insbesondere der Talkshow im Häftling abwehrt. Es geht darum, daß der freie Mensch im Häftling sein Geschwister erkennt.

Das existentielle Interesse des Häftlings an der Talkshow ist Botschaft des Häftlings an den freien Menschen. Er sagt, komm, freier Mensch, schau dir das mit mir an und höre, wofür ich keine Worte finde. Was fürchtet der freie Mensch dabei so sehr, daß er den Häftling lieber in ein dunkles Loch stecken will, anstatt in den Zeiten, in denen er den öffentlichen Marktplatz des Fernsehens nicht selber braucht, diesen dem Häftling als Talkshow-Flat zu überlassen?.

Schreckt ihn, daß gerade die männerschassende Aggressivität der verzweifelten Frau nachmittägliche Einschaltquoten bringt, schreckt ihn, daß die stinkende Verweigerung des ewig Pubertierenden grölende Anhängerschaft findet? Zerreißt ihn nicht all die schreiende Angst des vom Talkmeister zynisch professionell vermarkteten Häftlings eher das Herz? Fürchtet er die Therapie dieses öffentlich hin und herwogenden Hasses und Zynismus? Ein Häftling klagt darüber, daß sein Partner ebenfalls Häftling ist, ein anderer klagt darüber, daß ihn sein Partner als freier Mensch tagsüber in der Haft alleine lässt. Ein Häftling zieht sich mittels eines jungen Liebhabers aus der depressiven Partnerschaft mit dem freien Menschen. Ein anderer flieht zu einem reifen Menschen vor der mörderischen Infantilität eines jungen Häftlings. Das Talkshow-Flat verrührt alle Widersprüchlichkeiten des menschlichen Herzens. Daraus ein genießbares Gericht zu kochen ist persönliche Leistung des Häftlings und seine Herausforderung an den täglich aus dem Produktions-System an den häuslichen Abendbrottisch zu ihm kommenden freien Menschen.

Was den freien Menschen schreckt, ist, das Gericht zu verzehren, das der Häftling tagsüber für ihr gemeinsames Abendessen im Talkshow-Flat gekocht hat. Der freie Mensch entwertet dann lieber die kochende Zuwendung des Häftlings durch eine gönnerhafte Einladung zu einem Fraß aus der Schleimküche der Freizeit-Schickeria. Der Häftling wird danach aber gar nichts mehr für den freien Menschen kochen und diesen über den Fraß der Freizeit-Schickeria bluten lassen.

Die Schassung des freien Menschen im Talkshow-Flat geschieht mit Recht. Das Verderbliche aber daran ist, daß das dem Häftling falsches Bewusstsein gibt. Das Talkshow-Flat mauert den Häftling durch Haß auf den freien Menschen und damit auf sich selbst als des freien Menschen andere Seite der Medaille im Fernseh-Lager ein, denn ohne das Talkshow-Flat kann der Häftling seinen Haß nicht aufrechterhalten. Der Häftling, der da so lautstark vor der abendlichen Heimkunft des freien Menschen in der Talkshow kräht, ist ein armes Luder, aber auch der freier Mensch, der abends aus dem Produktions-System heimkehrend in ein hasserfülltes Bett steigt, ist ein armes Schwein.

Der Sex und Schleim, der aggressiv-masochistische Seelenstriptease der nachmittäglichen Talkshow, ist dem freien Menschen qualvoll peinlich. Es ist dieselbe Peinlichkeit, die seinen Dünkel gegenüber der proletarischen Kneipe speist, die Angst, daß die Lächerlichkeit seines Stolzierens dort beim Namen genannt wird. Die Peinlichkeit des Talkshow-Flats verweist auf die Schuld des freien Menschen, sein Kind mit dem grausigen Fernsehschleim abgespeist zu haben und seinen Angehörigen im Fernseh-Lager versinken zu lassen. Die Peinlichkeit weist auf die Schuld des freien Menschen, den Arbeitskollegen bei dessen Ausschluß aus dem Produktions-System verraten zu haben und ihn nicht aus dem Fernseh-Lager zu befreien. Der Dünkel des freien Menschen weiß genau, daß er für die Primitivität des Fernseh-Lagers die Verantwortung trägt, daß er den Lebensfluß des Häftlings abgrundtief kastriert, daß er auf des Häftlings Kosten im Produktions-System lebt.

Die Talkshow ist für den freien Menschen kostenlose und hoch wirksame Therapie, sie meint es mit ihm liebevoller und ehrlicher als jedes hochdotierte Helferlein. Im Grunde begegnet die Talkshow dem freien Menschen mit Respekt und Menschenwürde. Die Talkshow ist ein Hort der kollektiven Kreativität. Sie ist pures Gold, das tatsächlich auf der Straße liegt. Die Freizeitindustrie dagegen liefert nur den Kot zwangsneurotischer Trendsetter und die Nasenpopel einer zynischen Bestsellermafia. Der herzzerreißend einsame Häftling auf dem Talkshowschafott gibt der Welt mehr aus seinem Herzen als der Papst.

Peinlichkeit, Langeweile, Uninteresse und fanatische Neugier wehen den Häftling aus der Schlachtschüssel des Talkshow-Flats an und beziehen sich gleichermaßen auf ihn und den Angehörigen. Da muß der freie Mensch mitten hinein, anstatt panisch davor zu fliehen.

Was den Häftling im Talkshow-Flat peinlich berührt, hat er selbst als Peinlichkeit in seinem Angehörigen ausgelöst. Und peinlich war seinem Angehörigen, daß der Häftling ihn bewusst damit konfrontierte, im Stich gelassen worden zu sein. Was der Häftling an einem Mithäftling in der Talkshow verachtet, dafür wurde er von seinem Angehörigen verachtet. Das ist der Königsweg der Talkshowanalyse – aber er ist wirkungslos, wenn der Angehörige diesen Weg nicht mitgeht. Schalte die Talkshow ein und du begegnest nach dem knochentrockenen Umgang im Produktions-System dem blutig aufgerissenen Geschwister.

Die Talkshow ist dem Häftling der sicherste Beweis, daß er in der individuellen Häftlingsschaft des Fernsehens nicht allein ist. Das Talkshow-Flat ist der Sammelplatz im Häftlingslager und des Häftlings ganzes Bestreben ist, einmal persönlich diesen Sammelplatz zu betreten.

In die Talkshow kommt aber nur, der als unbeugsamer, alles outender Bekenner den Schlund der Bildschirmgemeinschaft füttert und der sich durch harte Vorgesprächsrunden zum öffentlichen Auftritt qualifiziert. Damit scheint die therapeutische Qualität des Talkshow-Flats entwertet. Das Enthüllen scheint nicht zu enthüllen, scheint das Innere des Häftlings nicht wirklich zu erreichen, scheint nur Fütterung des Bildschirmschlundes im Dienste des Produktions-Systems zu sein. Aber die Talkshow transportiert eine Sklavensprache, deren Botschaft gegen den Talkmaster gerichtet ist, die der Zuwendung des Talkmasters die Maske vom Gesicht reißt und ihn als armseligen Büttel des Produktions-Systems enttarnt. Wo nämlich ein Häftling wahre Existenz zeigt und der Welt ihre Grenzen, wird er folgerichtig zurechtgewiesen - das haben Sie in der Vorbesprechung aber anders gesagt.

Klar, auch der Talkshow-Kessel ist eine molekül-dünne Schicht auf dem Glas des sonst schwarzen Bildschirms. Sein Zweck ist, ein ebenso unreales Gebilde des Größenwahns im sonst einsam ins Nichts versinkenden Hirn des an den Bildschirm geketteten Häftlings zu erzeugen.

Gerade die öffentliche Ausbreitung der den individualisierten Häftling im Talkshow-Kessel ergreifenden Gespenster-Emotionen ist ein wichtiges Dokument über das vom Produktions-System eingerichtete Fernseh-Lager. Gerade die Öffentlichkeit des Lageralltags des Fernsehens ist neu gegenüber dem bisher unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindenden Lagergeschehen. Einerseits ist diese Öffentlichkeit erforderlich, um den internalisierten Lagerkommandanten des individualisierten Häftlings im Sinne des Produktions-Systems zu formieren, andererseits muß der freie Mensch lernen, die wahre Botschaft, die in dieser Öffentlichkeit liegt, zu erkennen, so wie er die Botschaft der einst vor ihm verborgenen öffentlichen Lager sich erarbeiten mußte. Diese Botschaft wird aber nur ein Häftling dem freien Menschen entschlüsseln können, wie einst Solschenyzin die Botschaft des Gulag nach elf Jahren Haft dem freien Menschen brachte. Die neue Aufgabe des Häftlings ist, dem freien Menschen im erschlossenen Land diese Botschaft gegen die nun völlig offen liegenden Tatsachen des Fernseh-Lagers verstehbar zu machen. Dazu muß der Häftling erst selbst das Talkshow-Flat in sich integrieren.

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