Fernsehen am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts - Page 6

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moralischen Anstalt.

Der institutionelle Wert der Film-Kuppel ist am ungeheuren ökonomischen Aufwand der Filmproduktion und an seiner energischen Promotion von Vorbilder bietenden Stars erkennbar. Die Film-Kuppel des Fernsehens wölbt sich über der immer noch mittelalterlichen Kathedrale, die sich mittels des täglich 24-stündigen Dreißig-Kanäle-Stroms um den freien Menschen und den Häftling schließt.

Die Film-Kuppel des Fernsehens ist in der ersten Beobachtungsstufe dicht mit Titeln übersäht. Die Kuppel ist zwei Stunden dick, denn mit jedem auf ihr erscheinenden Titel kann ein zweistündiger Film abgerufen werden. Die Begriffswelt des individualisierten Häftlings ist so in Filmtitel strukturiert. Jeder abgerufene Film hat im Filmseher ein Verhaltensmuster konditioniert. Die Filmtitel der Film-Kuppel sind Identifikatoren kollektiver Verhaltensmuster.

Die Film-Kuppel wird tatsächlich erst durch das Fernsehen realisiert. In ihr sind alle Filme seit Anfang der Filmkunst präsent. Der aktuelle Filmhorizont des Kinos ist nur ein cineastisch aufbereitetes Propaganda-Pamphlet für die augenblicklichen Erfordernisse des herrschenden Produktions-Systems. Das Kino dient dazu, die tägliche Willigkeit des freien Menschen mit dem Produktions-System zu synchronisieren. Das gilt auch für den aktuellen Bücherhorizont. Die Film-Kuppel des Fernsehens dagegen entspricht im Bücher-Universum allen über den aktuellen Buchmarkt hinaus seit 100 Jahren veröffentlichten Büchern.

Der individualisierte Häftling kann zu jedem Zeitpunkt nur über einen der dreißig Kanäle die Film-Kuppel des Fernsehens konsumieren. Die Einsamkeit des individualisierten Häftlings kommt daher, daß er von seinem Mithäftling durch den Bildschirm isoliert ist. Dennoch kann er dadurch, daß er annimmt, daß zumindest 29 andere Häftlinge die restlichen Kanäle konsumieren, realisieren, nicht allein im Fernseh-Lager zu sein. Das Gefühl, nicht allein zu sein, vertreibt sich der individualisierte Häftling durch zappen.

Andererseits aber stört zappen die Sinnfindung des Häftlings des über seinen aktuellen Kanal strömenden Filmes. Die Sinnfindung wird jedoch schon prinzipiell dadurch verunsichert, daß der Filmseher nie sicher ist, daß der Sinn des über einen anderen Kanal strömenden Films dem Sinn des Filmes widerspricht, den er gerade konsumiert. Fehlendes Vertrauen in die Verläßlichkeit der von ihm empfangenen Information ist sowieso das wesentliche Charakteristikum der Arbeitsbehinderung und Krankheit des Häftlings. Das Fernsehen verstärkt gerade diese Persönlichkeitsschwäche des Häftlings, indem es prinzipiell mittels der Dreißig-Kanal-Situation jede aktuell empfangene Information relativiert – diese Relativierung könnte aufgehoben werden durch Informationsaustausch mit dem gleichzeitig den anderen Kanal beobachtenden Häftling. Der über den aktuellen Fernseh-Kanal des individualisierten Häftlings empfangene Filmsinn kann nur durch Korrelationsanalyse des über die anderen Kanäle empfangenen Filmsinns abgesichert werden.

Das Problem der Sinnabsicherung kann durch Zappen nicht gelöst werden. Die Sinnfindung benötigt aus biologischen Gründen die Aufmerksamkeit des Filmsehers durchgängig für die vollständige Spieldauer des gerade empfangenen Filmes. Durch Zappen klittert sich der Häftling aus dreißig Filmen seinen aktuellen Privatfilm, wobei er die Zwischenräume der einzelnen Filme mit seinen verhaltensgemusterten Vermutungen füllt, er konsumiert also nur das von den 30 gezappten Filmen, was seinen Erwartungen entspricht und nichtet damit die vom Filmkünstler gesendete Information, die gerade im Unerwarteten besteht.

[Die Unterscheidung in gute und schlechte Filme ist hier irrelevant und bildungs-elitär, auch den noch so primitiven Seher muß durch Unerwartetheit ein Film fesseln. So hat Zappen nichts damit zu tun, daß einen ein gerade gesendeter Film langweilt, sondern damit, daß keiner der empfangenen Filme auf dem Weg der aktuellen Sinnfindung liegt oder viel wahrscheinlicher, daß der Häftling gerade zu keinem Fortschreiten seiner Sinnfindung Kraft genug hat und er sich lieber einen Privat-Film zusammen zappt, der den Stand seiner aktuellen Sinnfindung selbst bestätigt.]

Das Problem der Sinnabsicherung eines über einen Kanal empfangenen Films ist kein technisches der Simultanität in den dreißig Kanälen. Auch wenn der individualisierte Häftling über 30 Bildschirme alle Kanäle gleichzeitig konsumieren würde, zappt er diese geistig durch das Wandern seiner Aufmerksamkeit über die simultanen Bildschirme. Irrtum ist, daß durch ästhetische Ansammlung von statistisch unabhängigen Quellen ein durch die Sinnesorgane automatisch linear integrierter Summen-Sinn entsteht. Die Summierung muß in der Häftlings-Seele selbst aktiv, also modulierend geschehen.

Hauptproblem der Absicherung des Filmsinns ist die Einsamkeit des individualisierten Häftlings. Würde der Häftling ein und denselben Film in Gemeinschaft mit anderen Filmsehern konsumieren, dann könnte er den Filmsinn durch Kommunikation mit den Mitsehern, in denen aktiv eigenständige Filmsinnfindungen simultan geschehen sind, absichern. Da dem individualisierten Häftling diese Gelegenheit nicht gegeben ist, muß er die Simultaneität durch Vervielfältigung der eigenen Person mittels der dreißig Kanäle realisieren.

Der Sinn eines Filmes, der auf den individualisierten Häftling über seinen aktuellen Empfangskanal einströmt, kann mithilfe der über die anderen Kanäle synchron einströmenden Filme durch technische Mittel abgesichert werden, nämlich dadurch, daß der Häftling die für seine aktuelle Sinnfindung relevanten Filme der anderen Kanäle zwischenzeitlich mit Video-Recordern aufzeichnet.

Der sich aus dem Fernseh-Nebel erhebende individualisierte Häftling kann also dadurch zum freien Menschen werden, daß er seine Aufmerksamkeit aus der Show-Berieselungs-Sauce der Film-Kuppel des Fernsehens zuwendet und die Arbeitszeit des freien Menschen von 8 bis 18 Uhr zu seiner persönlichen Arbeitszeit in der Film-Kuppel macht. Er muß versuchen, eigenverantwortlich aus den Filmen der dreißig Kanäle sein tägliches Arbeitsprogramm zu gewinnen und darf die Gewalt über diese Zeit nicht den Fernsehanstalten überlassen. Im Video-Recorder ist jedem Häftling dafür ein wirksames, billiges Werkzeug in die Hand gegeben..

Wenn täglich über alle 30 Kanäle zwei bis drei Filme laufen, die den aktuellen Stand der Sinnsuche des individualisierten Häftlings betreffen, dann hat er 10 Stunden täglich Zeit, die aufgezeichneten Filme in seinem privaten, alle anderen Häftlingskanäle vernetzenden Video-Recorder-Kanal zu analysieren. Wichtig dabei ist, daß er für seine Analyse zuvor die Filme von den Werbeunterbrechungen reinigt, denn diese sind eine bewusst von den Fernsehanstalten durchgeführte Fragmentierung des Films zur Verhinderung der sklavensprechenden Sinnvermittlung.

Die Filmlänge von eineinhalb bis zwei Stunden ist ein schon aus ältester Theaterzeit stammender biologischer, alpharhythmischer Zeitrahmen menschlicher Sinnbildung. Die Fragmentierung der biologischen Sinnfindungs-Zeit durch Werbeblöcke ist eine raffinierte Methode, gerade an solchen Zeitpunkten, in denen biologisch eine Sinnbildung geschieht, diese der Werbebotschaft zuzuführen. Die Werbebotschaft wird zum biologischen Sinn des vorangegangenen Filmabschnitts.

Der Video-Recorder ermöglicht Objektbildung innerhalb der subjektiven Welt des individualisierten Häftlings durch eine analytische Trennung von Realität und Phantasie. Wenn der Häftling einen Kanal konsumiert, entgeht ihm selbstverständlich der andere. Aber das ist Zeichen von Realität, denn in ihr stoßen sich die Dinge hart im Raum. Der freie Mensch, der sich mit A austauscht, kann sich nicht gleichzeitig mit B austauschen. Der freie Mensch

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