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daß er sich für morgen ausruhe.« – »Für morgen?« – »Ja, morgen feiern wir ein großes Fest, den Geburtstag meiner Frau; vielleicht werden wir wünschen, daß die Parzen den Lebensfaden zerreißen ... Wer weiß? Selbst Gott, an dessen fabelhafte Existenz du glaubst, könnte nicht die Phantasie solcher Frevler, wie wir sind, erraten.« – »Ach Herr,« rief Justine unruhig aus, »wäre ich nur so glücklich, mich bei Ihren geplanten Orgien verschont zu sehen! Haben Sie denn nicht genug Leute, und bin ich nicht vollständig unnütz?« – »Nein, nein,[342] deine süße Tugend ist für uns wesentlich; aus der Mischung dieser reizenden Eigenschaft und der Laster, die wir ihr entgegenstellen, erblüht uns der herrlichste Genuß. Uebrigens wird die zärtliche, liebe Herrin deiner Hilfe bedürfen ... Du mußt dich einfinden, unbedingt!« – »Ach, welche Last, an so viel Ruchlosigkeiten teilzunehmen! Wissen Sie wohl, daß es keine schauerlichen gibt, als die des Herrn de Verneuil? Seine eigene Familie derart zu verderben!« – »Ich frage dich, Justine, was das ist: eine Familie? Was verstehst du unter diesen heiligen Banden, die von den Toren als die Bande des Blutes bezeichnet werden?« – »Ist es nötig, eine solche Frage zu beantworten? Kann es ein Wesen auf Erden geben, das diese Bande nicht kennt und ehrt?« – »Dieses Wesen existiert: ich bin es. Sei überzeugt, daß wir unseren Eltern nicht mehr schulden, als sie uns.« – »Mein Herr,« antwortete Justine lebhaft, »ersparen Sie mir alles, was Sie darüber sagen könnten; ich bin vertraut mit diesen Sophismen, doch keine hat mich überzeugt. Wenn die Blutschande, eines der größten Verbrechen, die der Mensch begehen kann, die Grundlage der Genüsse Ihres Bruders ist, so ist und bleibt er das ruchloseste und in meinen Augen schuldigste Wesen der Welt.« – »Die Blutschande ein Verbrechen! Ach sage mir, wie eine Handlung, die auf der einen Hälfte unserer Erdkugel berechtigt ist, auf der anderen verbrecherisch sein kann? Fast in ganz Asien und im größten Teile Afrikas und Amerikas heiraten Vater, Sohn, Schwester, Mutter usw. durcheinander; gibt es aber eine süßere Verbindung als diese? Eine, die schöner die Bande der Liebe und der Natur verknüpft? Nur aus Furcht, daß solche Familien zu mächtig werden könnten, haben unsere Gesetze in Frankreich die Blutschande als Verbrechen gestempelt; aber hüten wir uns, die Gesetze der Natur mit denen der politischen Berechnung zu verquicken! Selbst wenn ich einen Augenblick dein soziales System mir gefallen lasse, frage ich dich, wie es möglich wäre, daß sich die Natur solchen Verbindungen entgegensetzt? Kann es in ihren Augen etwas Heiligeres geben, als die Mischung des verwandten Blutes? Hüten wir uns: wir sind verblendet in Bezug auf die Gesetze der Natur; die brüderlichen oder kindlichen Gefühle, sobald sie sich auf verschiedene Geschlechter erstrecken, sind nichts als geile Gelüste. Möge ein Vater oder Bruder, die ihre Tochter oder Schwester vergöttern, in die Tiefe ihrer Seelen blicken und sich vorurteilslos über ihre Gefühle befragen, sie werden sehen, ob diese unendliche Zärtlichkeit etwas anderes ist, als[343] die Lust, zu ficken; sie mögen ohne Bedenken ihrem Triebe gehorchen, sie werden bald merken, welche Freuden sie empfinden. Nun frage ich, wessen Hände dieses Uebermaß an Wollust schaffen? Doch die der Natur! Wenn dem aber so ist, ist es vernünftig, zu sagen, daß solche Handlungen sie verletzen könnten? Verdoppeln und verdreifachen wir diese Blutschande so gut wir können ohne jede Furcht; je näher uns der Gegenstand unserer Begierden steht, desto mehr werden wir uns seiner Reize erfreuen.«
»So entschuldigt Ihr alles, Ihr Leute von Geist,« entgegnete Justine; »doch wenn euer unglückseliges Talent eure Leidenschaften auf dieser Welt entschuldigt, an dem schrecklichen Tage, da Ihr vor dem Weltherrn werdet erscheinen müssen, wird Ihnen kein so nachsichtiger Beistand zur Verfügung stehen!« – »Du predigst in der Wüste,« erwiderte Gernande; »unbestreitbaren Wahrheiten setzest du Gemeinplätze entgegen. Schau mal, ob meine Lustknaben bereit sind und führe sie in mein Gemach; ich werde mich bald zurückziehen; gehe, und bereite deinen kleinen Verstand und deine großen Grundsätze auf die morgigen erstaunlichen Ausschweifungen vor.«
Frau de Gernande erwartete unruhig und erschöpft Justine, um sie wegen einiger Einzelheiten der Vorbereitungen des folgenden Tages zu befragen. Unsere Heldin glaubte, ihr nichts verbergen zu dürfen. »Ach!« sagte die unglückliche Gattin, und ihren Augen entströmten Tränenfluten, »morgen ist vielleicht der letzte Tag meines Lebens; ich muß auf alles gefaßt sein, wenn diese Barbaren sich zusammentun. Ach, Justine, wie gefährlich sind die Menschen ohne Moral, ohne Zartgefühl, ohne Grundsätze!«
Indessen bereitet sich ein jeder für die Nacht vor und glaubt durch die wüstesten Ausschweifungen die nötigen Kräfte für die noch schrecklicheren des folgenden Tages zu finden. Verneuil schlief mit Dorothea, Gernande zwischen zwei Lustknaben. d'Esterval mit Frau de Verneuil und Bressac mit einem Kammerdiener seines Onkels.
Am nächsten Tage bereiteten die Alten den schönsten Salon des Schlosses vor; der Fußboden wurde mit einer sechs Zoll dicken, mächtigen Matratze bedeckt, die einen Teppich bildete, auf dem zwei bis drei Dutzend Polster umherlagen. Eine große Ottomane war im Hintergrunde des Salons angebracht; rings umher liefen so viele Spiegel, daß alles, was vorging, tausend- und aber tausendmal zurückgeworfen wurde. Auf Rolltischen aus[344] Ebenholz und Porphyr, die allenthalben standen, lagen alle zur Wollust dienenden Geräte: Ruten, Klopfpeitschen, Ochsensehnen, Nadeln, Fesseln aus Hanf und Eisen, Godmichés, Condome, Spritzen, Pomaden, Essenzen, Zwickzangen, Scheeren, Dolche, Pistolen, Giftbecher, alle möglichen Stimulantien und verschiedene sonstige Marter und Giftinstrumente; all das war reichlich vorhanden. Auf einem enormen Buffet gegenüber der Ottomane, am anderen Ende des Salons waren in Hülle und Fülle die schmackhaftesten und erlesensten Speisen symetrisch aufgestellt zu sehen; die meisten konnten warm bleiben, ohne daß man die Wärmequelle bemerkte. Karaffen aus Bergkristall befanden sich zwischen dem sächsischen, und japanischen Porzellan, das diese Speisen enthielt und waren mit den besten Weinen und den seltensten Likören gefüllt. Eine Unmenge Rosen, Nelken, Jasmin, Maiglöckchen und andere noch köstlichere Blumen gestalteten diesen Tempel der Wollust vollends schön und wohlriechend; alles war hier vereinigt, um für den ganzen Tag die Geilheit und die Sinnlichkeit zu befriedigen.
Im Hintergrunde des Saales befand sich, künstlerisch in einer Wolke dargestellt, das Bild des angeblichen Gottes des Weltalls in Gestalt eines Greises. Eine zweite Ottomane