Um halb zehn erscheint der Hausmeister und verteilt die Post. Ein schmächtiges Männchen Ende vierzig mit Glatze, stets in einen blau-grauen Kittel gekleidet. Außer seinem freundlichen „Guten Morgen“ sagt er nie ein einziges Wort und hält auch seinen Blick sehr dezent zurück. Auf dem sachte geschobenen Karren liegt ein Korb voller Umschläge. Einige platziert er, wortlos und vorsichtig, die Unordnung nicht störend, auf deinem Schreibtisch. Außerdem hat er einige Zeitungen, Magazine, sowie stets einen kleineren Berg von Leitz-Ordnern und Aktendeckeln auf dem Karren. Die Raster auf der Vorderseite der Aktendeckel quellen über von krakeligen Namenskürzeln; dieses Abzeichnungssystem wurde mittlerweile abgeschafft.
In nicht besonders großen Abständen dringt Getöse vom Gang herein, wenn die R. was zu faxen hat. Das Gerät hat Macken, R.'s Geraunze teilt es mit. „Scheiße! Verdammt noch mal! Was hat er jetzt denn? Papierstau! Verdammt noch mal! Blöder Wichser!“ Dazu eine Rhapsodie von schnellen hohen Fieptönen, kleinen Piepsern, wenn sie Nummern eintippt, Plastikklackern. R. hat eine auffallend tiefe Stimme, sie fährt Motorrad, oft mit Lederjacke und Palästinensertuch, zudem stufst du R.‘s gesamtes Wesen als „burschikos“ ein. R. scheint sich allerdings noch nie Gedanken deswegen gemacht zu haben. Ihren Look pflegt sie alle paar Monate zu ändern. Momentan trägt sie kurz geschnittenes, weißblond gefärbtes Haar und ausschließlich Hosen. Es scheint ein Zusammenhang zwischen den Männern zu bestehen, die manchmal im Hof unten warten, und ihrer jeweiligen Ich-Neudefinition. Sie hat mit Männern wenig Glück und zur Zeit ist sie Single. Mit der anderen R., die aber, zwar geschieden, Mutter ist und an sich sogar einen Freund hat, sitzt sie abends im „Miller's“. „Miller's“ ist die eine Kneipe, wo man noch hingehen kann, sagen sie. R. wäre, findest du, eine gute Besetzung für eine Firmenlesbe. Ob man ihr das je sagen sollte? Nee, besser nicht.
R. und R., wie überhaupt fast alle, machen nach Feierabend öfters Sport. Und ernähren sich bewusst. Die weiblichen Angestellten holen sich für die Mittagspause einen Salat in der Plastikschale, gemeinhin „Salätchen“ genannt. Dieses Wort gehört zu einer Art Ritus. Es wird gejubelt in einer Stimmführung, als handele es sich um Ambrosia. Auch sieht man sie an etwas Gebackenen knuspern, welches seinerseits man jedoch nicht richtig einschätzen kann, da es von der braunen Bäckertüte komplett verhüllt bleibt während ihres Knusperns, als hätte Verpackungskünstler Christo die Hand im Spiel. Im Sommer sitzen sie in der Sonne drüben im Park.
An einem Tag in der Woche geht die Belegschaft, oft auch „Team“ genannt, zum Vietnam-Wok, vorher werden Nummern der gewünschten Gerichte durchgegeben, sodass, wenn man den kleinen, lärmigen Raum betritt, die Teller dampfend auf dem Tisch stehen. Übrigens gehen nie alle, irgendwem kommt was dazwischen. Wegen dem raschen Service dieser Vietnamesen bleibt Zeit über für einen Sprung zu Tchibo. Nicht wegen dem Kaffee, den kriegt man kostenlos in der Firma aus der High-Tech-Vakuum-Überdruck-Maschine, sondern wegen den saisonalen Schnäppchen.
Ab spätestens Dienstagmittag wird runtergezählt bis fünfzehn Uhr, Freitag. Die Wochenenden bestehen - neben Lebensmittelgroßeinkäufen und Reinigungstätigkeit - aus Menschsein und Ausgehen. Dieses könnte sich in für Riesenkugeln legendären Eiscafés oder auch unprätentiösen Trink- und Sprechlokalen ereignen. Dort sind die Tische ohne Tischtuch, die Stühle ganz eckig, sehr hart und auf die Dauer unbequem, die Cocktails sind groß und bunt, mit und auch ohne Alkohol, relativ günstig, Preis-Leistungs-Verhältnis-mäßig. An den Wochenenden sind die Lokale brechend voll. Manchmal treten Coverbands auf und spielen „Davy's On The Road Again“ von Manfred Mann's Earth Band oder auch „Redemption Song“ von Bob Marley and The Wailers.
Innerhalb der Arbeitszeit geschieht das Menschsein in eiligen Privatgesprächen, welche zwischen die Arbeitsvorgänge gepasst werden, vor allem, wenn ein in der Hierarchie höher Angesiedelter damit anfängt und es also legitimiert. Mit strahlenden Augen sprechen Männer über den Hausbau und über Sportclubs, die teils im Fernsehen vorkommen, teils im praktischen Leben von ihnen selbst betreut werden. Frauen beratschlagen Fragen des Modeeinkaufs, Weihnachtsgeschenke und Vergleichbares. Innigkeit erwächst, wenn der Kleinen, der selbst gemachten Kinder gedacht wird. Es handelt sich ohne Ausnahme um Genies und Ausbünde an Empfindsamkeit, Witz und Fantasie. Leider serbeln diese Kinder oft aber Wochen und Monate lang an schlimmsten, lebensbedrohendsten, ausmerzendsten Krankheiten, Seuchen, Allergien und Lerndefiziten.
Wieder ist die Milch sauer geworden. Obwohl sie zur Abwechslung wirklich im Kühlschrank gestanden hat. Am Küchenregal ein munterfarbiges Post-it: „Neue Hinweise auf unseren Bürogeist! Als ich ging, habe ich die Milch in den Kühlschrank gestellt. Um 23 Uhr war ich wieder hier. Da war sie oben drauf. J.“ J. ist Vollprofi, graue Eminenz. Selbst dich würden sie rausschmeißen, wenn J.‘s Chemie zu dir nicht stimmte. Allerdings kann J. mit jedem, er ist so nett. Niemand sonst im Haus geht spätnachts, frühmorgens und an den Wochenenden ständig aus und wieder ein, macht so viele Überstunden, die er nicht aufschreibt. Ein klein wenig ist J. noch selbstständig, das betreibt er von seinem Platz aus auch. Seine Telefonate muss er innerhalb seiner Arbeitszeit abwickeln. So gleicht sich alles wieder aus.
U. rettet uns. Sie kann alles, sie weiß alles, sie schafft alles. U. hat unfassbares Vergnügen an ihrer Arbeit. Sie streitet nie, dennoch hat sie noch nie den Kopf eingezogen. Außer beim Seniorchef und beim Juniorchef. Die haben bei ihr Recht in allem. Erst drei Jahre ist U. jetzt in dieser Firma, davor hat sie studiert. Unüberhörbar stammt sie von sehr weit nördlich. Nur ihre hervorragenden Zeugnisse, Arbeitsproben, das harmonisch verlaufende Vorstellungsgespräch haben sie rein gebracht. Zähigkeit, Übereifer, Selbstbewusstsein charakterisieren U., findest du, Intelligenz nicht wirklich.
Auf deinem Sektor kennt sie sich überhaupt nicht aus, hat keinerlei Gefühl für die inneren Zusammenhänge. U. setzt sich was in den Kopf und du weißt, es kann nicht klappen, wie sie sich denkt. Du schleppst Literatur herbei, um es zu erklären. U. meint: „Mir egal, was da steht. Die Intuition sagt mir, es ist, wie ich es vor mir sehe. Es wird schöner so.“ Oder: „Du, ich kann nicht diskutieren, ich muss ständig gleichzeitig an drei Orten sein.“ Seit du U. klar zu machen versucht hast, dass sie dir nicht drei Aufgaben für dieselbe Arbeitszeit aufgeben kann, dass es nichts hilft, anschließend alle fünf Minuten durchzuklingeln, zu fragen, ob schon was fertig wäre, nebenbei Änderungen zu erwähnen, die ihr gekommen sind, steht fest, dass U. an drei Orten gleichzeitig sein kann und du aber nicht. „Napoleon konnte vier Sachen gleichzeitig. Ich kann fünf. Frauen können das alle.“
Warm scheint die Sonne des Altweibersommers herein, die Mittagspause ist vorbei. Die Gattin des Juniorchefs besucht um diese Uhrzeit die Firma. Sie ist mit allen per „du“, außer mit dir, dem Neuen, bis zu ihrem Kind hat sie hier gearbeitet. Auf deinem Posten. Ihren gelockten Goldschatz im Dreiradwagen parkt sie bei Männe, bevor sie den Flur abschreitet. Unser Juniorchef, sonst energisch, zynisch, durchsetzungsfreudig, verwandelt sich in einen Blödheiten brabbelnden Tanzbär, sobald er das dicke Baby an seine Brust drückt. Unterdessen wirft die Gattin den Pferdeschwanz über den Norwegerpulli, lässt sich vor dir auf der Schreibtischplatte nieder und passt auf, ob ihre kleinen, aber ganz runden, festen und aufrechten Brüste dich gierig machen. „Haben Sie sich denn gut eingelebt bei uns? Es macht Ihnen doch Spaß?“
Nicht wirklich, wenn einen eine Zerstreuung suchende Hausfrau von den drei parallel und schon längst abzuliefernden, dabei niemals realisierbaren Aufträgen der U. fern hält. Und weil sie die Möglichkeit in Erwägung zieht, du könntest schwul sein, erzählt sie, während sie ihre braunen Rehaugen treuherzig und mädchenhaft in deinen blauen versenkt, von den skandinavischen Männern, mit denen sie in München BWL studiert habe, die seien höchst amüsant und gut benutzbar gewesen, wenn sie getrunken gehabt hätten. All dies, als gäbe es keinen außer euch zweien in dieser Firma, der sich mit dieser Materie wirklich auskennt. (Einen Norweger oder Schweden hast du nie kennen gelernt, in München studiert hast du auch nicht.)
Noch später hörst du im Gang den Schorsch dröhnen. Der Schorsch ist ein lustiger Kerl von irgendwie angegammelter Ewiger Jugend. Er geht keiner geregelten Tätigkeit nach, nicht, dass irgendwer wüsste, hat allerdings eine Freundin, die hochfeine Kuchen, Torten und Quiches backt. Der Schorsch und der Juniorchef machen was in ihrer Freizeit zusammen, das wir uns an dieser Stelle hier wie Saxophon oder Kajak vorstellen müssen. Auch der Schorsch sagt zu allen „du“, wobei du ihn jedes Mal innerlich das Gedächtnis nach deinem Namen absuchen siehst. „Oh langweilig!“, hörst du Schorsch röhren, „eine Laune wie am Karfreitag. So super Wetter! Und ihr seid wieder fleißig.“ Alle streifen ungerufen an der offenen Tür vorbei nach vorn zu den Mädels, wo Schorsch einen Zwetschgenkuchen der Freundin verteilt. M., obwohl sie auf Linie achtet, dürfte längst Schlagsahne aufgesprüht haben. Finger schleckend steht die um alle bekümmerte R. in der Türe und warnt dich: „Du, der Schorsch ist da. Zwetschgenkuchen. Lecker! Willst du nichts? Er ist gleich alle.“ Tatsächlich ist die Sahne leer und vom Kuchen sind nur drei extrem schmal geratene Stückchen über, die bei dir daheim etwa eines ergeben würden. Angesichts der Zahl der Anwesenden muss es mehreren geglückt sein, sich drei solche Stückchen einzuschieben.
Tief drin im Gebäude schläft ein Löwe, der Seniorchef, ein beleibter Herr in den Sechzigern. Er trägt Anzug, Krawatte und Hornbrille und schmaucht tatsächlich manchmal teure kubanische Zigarren, obwohl er das nicht soll, denn er ist krank am Herz und hat eine Folge riskanter Operationen hinter sich. Er steht für seigneurale Lebensart und geruhsames Auftreten. Mit mehreren Frauen war er verheiratet, hat insgesamt mehr als ein Dutzend Kinder und eine Reihe Enkel im ganzen Land verstreut. Im Sommer fährt er ein Kabrio und sitzt im Biergarten mit Malern und Schriftstellern; er reist mit dem größten Jazzer unserer Stadt nach New Orleans hinüber. Der Juniorchef ist nicht sein leiblicher Sohn, sondern angeheiratet und ein anderes Naturell. Der Alte erscheint lässiger, selbstironischer, spaßiger, genussvoller. Aber wie jeder Löwe ist er nur so lange lieb, wie er sicher sein kann, dass alle Tiere auf sein Kommando achten. Keine Weichenstellung kann im Unternehmen gegen des Löwen Wille vorgenommen werden. Die zudringliche Väterlichkeit, in der er mit den weiblichen Mitgliedern unseres Teams tändelt, wird als Überbleibsel einer vergehenden Generation ironisch geduldet. Soeben legt der Senior der bebrillten Azubine mit dem eng anliegenden Wollpullover seinen Arm um die Hüfte und gesteht, gleich beim Hereinkommen sei ihm die neue Frisur aufgefallen, sie rege sein altes Herz wieder zum Schlagen an. Die Azubine prustet los und wird rot.
Am Freitag, schon recht bald nach der Mittagspause, aber zuerst muss noch was gearbeitet sein, lässt der Juniorchef auf dem Gang antreten und überreicht uns allen ein Glas mit Prosecco. Der Flur ist eng, dämmerig und hässlich, aber sonst hat kein Raum dieser Etage Platz genug für alle. Der Prosecco ist okay, aber es gibt Edleres und natürlich weiß jeder, dass sie alle nur noch so tun, als wären sie mit diesen Personen gern zusammen, bevor sie einer nach dem andern in ins private Wochenende abhauen. Hinterher werden die Gläser von A. gespült, einer älteren Dame, die es gerne macht.
Eben erst ist Freitag, aber alle Freitage werden, während man blinzelt, zum Montagmorgen. Also steht genau jetzt gerade der Juniorchef in der Tür und wünscht einen guten Start in die Woche. Dieses Jahr soll es einen Ausflug mit dem Team geben. Mit dem Bus geht es zu einem Tanzabend, jedem wird ein Heftchen mit dem Programm und Fotos und Sprüchen zum Tag überreicht werden. Dafür wünscht sich der Juniorchef Hilfe von dir. Du sollst die Philosophie seines Unternehmens, obwohl mehrfach schon geschehen, frisch in drei Zeilen fassen. „Sie brauchen sich nicht zu verkünsteln. Sehen Sie die Imagebroschüre noch mal durch! Was Nettes, Sie verstehen schon. Im Internet gibt’s auch immer Zitate von berühmten Leuten. Es sollte zum Kernkompetenzclaim passen: Wir sind die ganz anderen.“
„sind die anderen“ tippst du und liest:
„Die Hölle, das sind die anderen.“
Jean-Paul Sartre, französischer Philosoph und Schriftsteller (1905 - 1980)
Kommentare
Drei Zeilen sind es nicht gewesen -
Doch lohnte dieser Text das Lesen!
LG Axel