Reuenthal f - Mit Helmut in Prag

Bild von Klaus Mattes
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Helmut war begeisterter Pragfahrer. Er verherrlichte diese Stadt nicht wegen ihrer Sehenswürdigkeiten. Zwischen mittelalterlichen, barocken und Gründerzeitbauten fiel ihm ein Unterschied nie auf. Alles war alt.
Helmut pflegte zu sagen: „Eigentlich ist doch alles deutsch. Das sieht man. Prag müsste zu Deutschland gehören. Schade, dass die Tschechen es haben. Wer weiß, eines Tages wird’s wieder deutsch sein.“

Helmut war zirka vierzig. Ein untersetzter Typ mit Schnurrbart. Schwul geworden war Helmut Ende zwanzig. Und zwar auch nur, weil die einzige Liebe seines Lebens, eine Frau, nach sieben guten Jahren Schluss gemacht hatte. Helmut erzählte immer, damals wäre er ein gut aussehender Mann gewesen. Alle waren sie seinerzeit auf ihn scharf gewesen. Nicht, wie jetzt, von Sorgen gedrückt sei er gewesen, sondern der lustige Typ, der immerzu gut drauf ist, dem die anderen meistens folgen, ohne es zu merken.

Seine ersten zwei Beziehungen zu jungen Männern, die erste ging zwei Jahre, die nächste fünf - und immer waren diese Männer am Anfang noch unter zwanzig gewesen, siebzehn der zweite, hatte er im damaligen Schwulenlokal von Reuenthal angeknüpft, in welchem er sozusagen Lokallöwe gewesen sei.

Aber in den vergangenen zwei Jahren war Helmut nun ins Unglück geschlittert. Die Arbeit, er hatte sie gleich nach dem Hauptschulabschluss bekommen gehabt, die Lehre hatte er dort gemacht, im Büro von der Oberländer Drahtzieherei, eines Tages hatte er gekündigt, wie im Übermut, aus Überdruss, nicht zuletzt wegen den Magenschmerzen, hatte von einem auf den andern Tag zum schattenhaften Heer der Arbeitslosen gezählt. Helmut, der immer gearbeitet und niemals krankgefeiert hatte.

Gleich zur Begrüßung hatten sie ihm auf drei Monate das Geld gesperrt. Er hätte nicht kündigen brauchen. Das mit den Magenschmerzen und dem Stress war jetzt allen egal! Dann floss ein Jahr akzeptables Geld, dann wieder Ende. Er habe, hätten sie rausgefunden, zu hohe Reserven.

Wie das so seine Art war, hatte Helmut es eines Tages nicht länger ertragen, wie die Vermittlungsdame ihn gedemütigt hatte. Er war etwas lauter geworden, hatte, dummerweise von sich aus, geschrien:
„Was glaubt ihr! Euch Bande brauch ich nicht! Ich hab selber alles, was ich brauch. Die Eltern sind tot, ich hab das Haus gekriegt.“

Natürlich war das ja schon sein nächstes Unglück gewesen, dass so kurz nacheinander alle beide Eltern gestorben waren, erst die Mutter, dann sein Vater. Auch stimmte das nur bedingt, das Elternhaus hatte er nämlich nicht alleine geerbt, das musste erst noch mit den zwei älteren Schwestern, er war ein Nachkömmling, aufgeteilt werden. Andererseits wohnte er die ganze Zeit umsonst im Haus, in dem sich auch die eine von den Schwestern, wegen ihren Kindern, breit machte. Eine heimtückische Brut. Aber andererseits hatte er ein kleineres Vermögen, über das er sich lieber ausschweige.

Genau dieses hatte Helmut mehrere Monate lang allen erzählt, jedenfalls im Park den Schwulen, mit denen er noch sprach. Oder sie mit ihm, was allerdings wenige waren.

Er werde sein Hausdrittel zu Silber machen, dann in Thailand drunten ein richtiges Haus erwerben. Er werde nie mehr schaffen, sondern sich als Ausländer in Thailand heimisch machen, mit She-Boys umgeben. Sei recht einfach, höre man immer wieder. Sein kleines Vermögen bleibe ihm. Er gehe davon aus, dass es, zum Preisniveau von dort, noch bis zur Rente langen werde. Dann, in zwanzig Jahren, wenn die ersten Altersgebresten aufbrächen, werde er zurückkehren. Sich von dem sauberen Staat unterhalten lassen, wie das so viele andere auch machten.

Über einen krummhundigen Dresdner, einen Maurer, der im Jahr 1989 gleich rübergemacht hatte, seither verschiedenen Selfmademanbeschäftigungen nachging, Pornodarstellung und Produktion, Drogennachschub für Gymnasialschüler, denen man auf diese Weise einen Zuverdienst als Schauspieler zuschanzen konnte, Frisieren, Weiterverkäufe halb legal besorgter Fahrzeuge in den ferneren Osten und so, hatte Helmut den Einstieg in die Prager Szene gefunden.

Manchmal diskutierten Helmut und der Lehrer, ob die Prager Minderjährigen, sie konnten auch sechzehn oder fünfzehn sein, es war legal drüben, der Tscheche war in so Sexdingen freier und unbeschwerter, nicht etwa Strichjungen, Helmut dann also deren Freier wäre. Über (starke) zwanzig Mark ging dort der eigentliche Tarif ja aber fast nicht hinaus. Die Zugaben gab man dann immer gern. Sie waren spottbillig. Es machte Spaß, einen Tag in Gemeinschaft zu stromern. Also waren das keine Stricher, die von einem Umsatz zum nächsten hupften, sondern kleine Abenteurer, wie so kesse Jungen eben sind.

Für den Lehrer war dieser nicht abschaltbare Helmut zu Beginn noch ein bisschen unerfreulich. Das Sommerhalbjahr hatte irgendwann ja doch noch angefangen. Die Heinis kreuzten hier wieder auf. Jetzt war ausnahmslos jeden Abend Helmut aber auch da. Er ging nie mehr weg, ob es zwölf oder eins wurde. Helmut konnte um zwei noch hocken, wenn längst keiner mehr kommen konnte. Peter versuchte zu kontern, indem er zunehmend später zum Park ging. Spätestens um eins pflegte der Reuenthaler Nachtdient die roten Läufer einzurollen. Dann trat Peter zögernd und vorsichtig auf den Plan, nach Helmut schielend, ob dieser weg wäre.

Eines Nachts, er hatte Bernhard, einem Studienfreund in Baden, einen extrem langen Brief geschrieben, jedes Zeitgefühl dabei verloren, war er kurz vor drei angekommen. Um diese seltsame Zeit stand da ein junger Mensch. Noch war dem Peter ziemlich unklar, dass dieser Fragliche knapp erst vor seinem achtzehnten Geburtstag gestanden hatte. Gestanden hatte ihm sein Schwanz, den er schon hingehalten hatte, als der Mann ihn bis auf Armeslänge noch nicht mal erreicht gehabt hatte. Der Junge war schlank, groß, sehr blond, soweit man es erkennen konnte, praktisch eine Schönheit, der Volltreffer sozusagen, ein Engel aus Fleisch und Blut. Der Engel trug ein dünnes Ringelhemd ohne jegliche Ärmel, Jeans und Sportschuhe. Der Schwanz war abnormal riesig.

Küssen mochte der Engel nicht, blasen auch nicht. „Ist schon zu nass“, kommentierte er, sich nebenbei als Russlanddeutscher demaskierend. Minuten vergingen, dann hatten sie gespritzt. Der blonde Engel machte die Hose zu und lief weg.

In der folgenden Nacht machte Peter einen großen Fehler. Er erzählte über den Russenblonden und die mit ihm verbundenen Ereignissen Alex, einem verklemmten Studenten, der später irgendwann noch mal auftauchen wird in diesem Bericht. Alex war auf eine Art noch Junge, stand sogar auf ältere Männer, auf Akademiker vornehmlich, aber Alex zickte meist nur. Alex war auch nicht schön, sondern kompliziert. Für einen Achtzehnjährigen könnte Alex sich nie begeistern und das war entscheidend an dieser Stelle. Sonst hätte ihm der Mann es nicht erzählt und sonst hätte Alex es vielleicht für sich behalten.

Aber zwei Nächte später baute Helmut sich auf und nuschelte:
„Du, mit dir muss ich über was reden.“
Es ginge hier rum, mit einem jungen, blonden, äußerst gut aussehenden Russen, welcher den Namen Roman trage, habe Peter neulich was gemacht. Es handele sich um einen mit einem wahnsinnig großen Schwanz, den der Mann ja dann auch geblasen hätte. Roman hätte mehr oder weniger nichts gemacht, nichts gesagt. Soweit korrekt, nicht? Woher er das beurteilen wolle, rief Peter. Spiele keine Rolle, er, Helmut, kenne diesen Russen nämlich schon länger, darum müsse er wissen, wie das zustande gekommen und wozu es führen würde.

Genau durch dieses Gespräch waren sie zu Freunden geworden.
Prag-Helmut ließ ihn von jetzt an keine Nacht mehr alleine stehen im Park. Jedes Mal quetschte er ihn aus, ob irgendwas über den Roman noch nicht gesagt sei. Er sehe es deutlich vor sich, die Eichel vom Roman war so und so. Und leider hatte er einige Haare in der Arschspalte oder stimme das nicht?

Romans hektische, abweisende Art war Helmut reizvoll erschienen. Mittlerweile, er hatte es durchgespielt, war ihm klar, dass es in seiner Macht stand, aus Roman die kommende Beziehung für mindestens fünf Jahre zu formen, wenn er mit entschlossenem Willen an die Sache ginge. Konkurrenten waren sie also keine mehr. Der Lehrer machte ja nur Sex, Helmut aber suchte den, mit dem er in Thailand zusammen alt werden könne.

Wenn Helmut mitbekam, dass der Mann es zwischen den Büschen trieb, mit einem, älter als vierzig vielleicht, Bauch, ein Ausländer in C&A-Sandalen, wenn Helmut sich in die Nähe gepirscht hatte, kriegte der Mann es später zu hören, dass man solchen Schrott verschmähe, sofern man den Prager Hauptbahnhof mal erforscht hätte. Peter, solle doch mit, probeweise.

Im Winter, als gar nichts mehr ging, war der Mann schwach geworden. Beim Billard im Prager Hallenbad hatten sie einen Siebzehnjährigen getroffen. Helmut hatte ihm eine Cola spendiert. Der Junge konnte kein Deutsch.

Laut fragte Peter: „Willst du ihn ins Hotel mitnehmen?“
Helmut hatte nicht reagiert.
Die zweite Cola zahlte Peter. Mit ein paar Wörtern Russisch, die ihm jetzt eingefallen waren, klappte die Verständigung gut. Helmut war schnell aus dem Rennen.

Den Rest vom Tag hatte er nichts mehr auftreiben können. Das setzte Vorhaltungen. Dem Freund, der einem die Tour ermöglicht hätte, schnappe man den Jungen nicht weg.
Aber gefragt habe er doch immerhin.
„Du weißt, dass ich zu geizig bin, ihm eine Cola zu spendieren, wenn ich nix will von ihm.“
Helmut kannte sich selber irgendwie.

Wo immer sie hingingen, immer wieder fing er diesen Stunk wegen Freundesverrat von vorne an. Es war zwischen zwei Arbeitstagen, schon lang nach Mitternacht, die Schwulenbar im Stadtzentrum gähnend leer. Die zwei angetrunkenen Deutschen schrien aufeinander ein und Tschechen, die hinter den Theken standen und feine Hemden trugen, sahen herüber.

Kaum zurück in Reuenthal trennten sich ihre Wege.
Es war aber weiter Winter.
Von Dauer konnte ihr Zerwürfnis nicht bleiben. Immerhin waren sie in diesem tristen Park die zwei Leute mit großen Geschichten: Roman. Und Prag.