Respekt

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Ich habe einen Brief gefunden. Es ist schon lange her, dass du ihn damals geschrieben hast.

Mit den Fingern fahre ich vorsichtig über deine Worte und plötzlich sehe ich dich vor mir stehen. Deine Schrift erschafft dich wieder, lässt dich zu mir treten. Zumindest in meinen Gedanken.

Ich würde gerne ein bisschen mit dir reden. Hättest du kurz Zeit? Nur ein paar Minuten, nichts Großes. Bloß um zu wissen, was du von mir denkst. Von dem, der ich geworden bin.

Habe ich dich sehr enttäuscht?

Ich würde auch gerne wissen, wer du bist. Warum du gegangen bist. Und wann genau du mich verlassen hast.

Wir haben uns verändert.

Ich sehe dich im Spiegel, weißt du das?

In meinen Augen, denn sie sind braun, so wie deine. Heute sind sie müde, sie werfen Schatten über dein Gesicht.

Deine Arme sind zu schwach, dein Gesicht ein bisschen schief.

Deine Haut ganz hell, als hätte sie die Sonne nie berührt.

Vorsichtig strecke ich die Finger aus, berühre das Glas, fahre über dein kaltes Gesicht.

Ich bin ganz anders, als du das erwartest hast.

Ich betrachte dich genauer.

Die Beine die dich tragen, sind auch meine.

Ich werde traurig, nachdenklich, verliere mich in meinen Gedanken. Schatten der Vergangenheit kriechen meinen Rücken hinab, finden ihren Weg zurück in mein Herz.

Ich würde gerne all die Dinge zurücknehmen, die ich zu dir gesagt habe. Ein paar schlaflose Stunden zurückgeben.

Aber das kann ich nicht und es macht mich wahnsinnig. Ich bin dir so vieles schuldig geblieben. Ich habe dich nie richtig respektiert.

Stattdessen nannte ich dich so oft dumm, obwohl du gar nichts dafür konntest.

Peinlich.

Unorganisiert.

Oft zu leise - manchmal zu laut.

Faul.

Untalentiert.

Ich habe dir Dinge an den Kopf geworfen, dich ich damals wirklich meinte.

Du beschwerst dich zu oft.

Und kriegst nichts auf die Reihe.

Ich wünschte, ich könnte das zurücknehmen.

Meine Schuld - Nicht deine.

Das schlimmste, was ich gesagt habe, es tut mir immer noch weh.

Ich weiß, dass es dir nicht anders geht.

Ich habe es immer und immer wiederholt, habe es geweint und geschrien.

Ein Wort verließ meine Lippen. Und es war so falsch von mir, dir das zu sagen.

Unbedeutend.

Ein Wort, das sich in deine Träume schlich wie ein Raubtier, das sein Opfer jagt. Die Zähne fletschte und dich von hinten überfiel. Immer noch von mir Besitz ergreift, wenn ich nicht darauf achte. Kontrolle über meine Gedanken ergreift. Mich verfolgt, fängt und von innen heraus ganz langsam frisst.

Nichts von dem, was ich behauptet habe, war die Wahrheit.

Nichts, glaube mir.

Du bist eben anders. Besonders. Nicht perfekt, aber wer ist das schon?

Vier Worte kommen über meine Lippen, ganz heißer und leise.

Sie sind viel kleiner, als ich dachte.

"Es tut mir Leid"

Diese Floskel - viel zu oft bloß leere Worte.

Diesmal nicht. Dieses Mal ist das alles was ich sagen will.

Ich schaue direkt in deine Augen, die ich so gut kenne.

Sie blicken genau wie meine, wenn ich fast zerbreche.

"Es tut mir Leid"

Dieses Mal lauter. Selbstbewusster. Sicherer.

Und voller Respekt. Respekt für dich. Dafür, was du geleistet hast.

Ich weiß nicht, ob ich wirklich zu dir durchdringen kann.

Aber ich weiß, dass du mich hören kannst. Irgendwo tief in mir drin, da bist du noch und lauschst mir stumm. Mir und meinen kleinen Worte.
Mir mit allen meinen Fehlern,

denn auch diese teilen wir.

Es tut mir Leid, dass ich nicht besser zu dir war.

Dass ich nicht mehr sein konnte, für uns beide.

"Es tut mir so Leid", sage ich und starre mir selbst ins Gesicht.

Ich bin wirklich stolz auf dich.

Und ich würde gerne mehr tun, damit du mir verzeihst.

Doch ich bin du und du bist ich.

Der Spiegel zerbricht.

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